„Die Autoindustrie trieb den Abriss der Glaubwürdigkeit so weit, dass die Unschuldsvermutung, auf die jedermann Anspruch hat, für naiv gehalten werden mag.“

„Deutlichkeit ist eine gehörige Verteilung von Licht und Schatten“.


Johann Georg Hamann

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Keine Branche hat die Abrissbirne so gnadenlos gegen die eigene Glaubwürdigkeit geschwungen wie die Autoindustrie. Mit der Manipulation von Aggregaten und Software spiegelten Hersteller wie Audi, Volkswagen, Opel, Renault und Mercedes den Kunden niedrige Abgaswerte vor. Das Ausmaß kam erst allmählich ans Licht.

Der Wolfsburger Autokonzern war eben nicht der einzige Sünder in einer Schar der Heiligen. Das ist spätestens seit der Ankündigung von Daimler klar: Satte drei Millionen Fahrzeuge müssen in Ordnung gebracht werden. Erstaunlich, wie lange sich die Untertürkheimer hinter Volkswagen verstecken konnten! Die Niedersachsen zogen das Feuer der US-amerikanischen Behörden und Verbraucheranwälte auf sich, galten über Monate als Branchenbösewicht. Volkswagen bezahlt deshalb einen besonders hohen Preis für die Manipulationen.

Es war klar, dass beim Großreinemachen noch einiger Schmutz sichtbar werden würde. Möglicherweise sind beim Heben der Teppiche auch die Absprachen aufgefallen, von denen der „Spiegel“ berichtet. Sollte es Geheimzirkel zur Absprache in Fragen von Technik und Einkauf gegeben haben? Sollten deutsche Autobauer sogar ein Kartell gebildet haben? Im Lichte der Befunde der vergangenen Monate ist man geneigt, es zu glauben.

Noch ist nicht klar, wie weit die Unterlagen tragen, die Volkswagen und Daimler eingereicht haben sollen. Der Fall hat aber das Potenzial, die nächste Milliardenvernichtung nach sich zu ziehen. Wegen unerlaubter Preisabsprachen hatte die EU-Kommission die LKW-Hersteller Daimler, Iveco, DAF und Volvo/Renault vor fast genau einem Jahr zu einer Geldbuße von knapp drei Milliarden Euro verdonnert – nur die Volkswagen-Tochter MAN kam als Kronzeuge straffrei davon.

Volkswagen und Daimler äußerten sich gestern nicht zum „Spiegel“-Bericht . Und erneut schwingt die Abrissbirne wider die eigene Glaubwürdigkeit.

Welche Moral – wenn man den Begriff hier verwenden will – steckt hinter den eklatanten Verstößen gegen Recht und Gesetz, Sitte und Anstand? Fühlte sich die Branche wie ein Staat im Staate? Glaubte man, sich seine eigenen Regeln setzen zu können? Die schwer erträgliche Selbstgefälligkeit, mit der manche Spitzen dieser Renommier-Industrie auftraten – war sie das Symptom einer grundlegenden Verirrung?

Die Autoindustrie hat den Abriss der eigenen Glaubwürdigkeit so weit getrieben, dass die Unschuldsvermutung, auf die im Rechtsstaat jedermann Anspruch hat, für naiv gehalten werden mag: Ist die angebliche Kartellbildung vielleicht gar nicht so böse? Fallen die gerade noch so bornierten Unternehmen nur ins andere Extrem? Entspringen die Schriftsätze, die der „Spiegel“ „eine Art Selbstanzeige“ nennt, einer Hypersensibilität der Compliance-Wächter?

Die Branche könnte unter dem Druck ausländischer Billiganbieter ja schlicht und einfach beraten haben, ob man sich auf gemeinsame Standards einigen kann, damit Zulieferer wirtschaftlicher produzieren und günstiger anbieten. Ob das kartellrechtlich angreifbar wäre, muss geklärt werden. Moralisch wäre es deutlich weniger angreifbar. Da die Zeit auch des behördlichen Wegsehens offenbar vorbei ist, werden wir in naher Zukunft mehr wissen.

Klarheit ist ein Zustand, den nicht nur Rechtsexperten und Yoga-Anhänger anstreben. Manchmal wird sie auch von jener Zunft gesucht, die sich für gewöhnlich in der Kunst der Verklausulierung übt. So hat der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel diese Woche erfreulich undiplomatische Worte zum Verhalten der Türkei gefunden. Nach Andersdenkenden und Journalisten wurden nun Menschenrechtler verhaftet, weil sie angeblich Terroristen unterstützten. Der Vorwurf ist offensichtlich absurd; die Willkür des Erdogan-Regimes hat eine weitere Grenze überschritten. Damit zerstört Ankara die gemeinsame Basis.

Bundeskanzlerin Merkel mag sich heute fragen, ob ihre Wahlkampfhilfe für den Sultan-Darsteller Erdogan klug war. Natürlich: Die Türkei ist ein bedeutender Partner, in der Nato, in der Flüchtlingsfrage, durch die in Deutschland lebenden und arbeitenden Türken. Aber das setzt nicht die Grundwerte des Westens außer Kraft, es darf nicht zur Selbstverleugnung führen. Opportunismus erzeugt selten nachhaltigen Nutzen.

Klare Botschaften werden am besten dann verstanden, wenn sie sich auf dem Konto niederschlagen. Dass die Bundesrepublik die Hermes-Bürgschaften für Exporte in die Türkei infrage stellt, geht in die richtige Richtung. Mehr Konsequenz wäre besser gewesen. Berlin wirkt trotz der Lautstärke seines Protestes diffus – zwischen dem DDR-Vergleich Wolfgang Schäubles und der Abwiegelung von Gabriels SPD-Ministerkollegen Maas ist so viel Luft wie in einem riesigen Marshmallow. Einer wie Erdogan ist so wohl nicht zu beeindrucken.

Klarheit bewahrt die Glaubwürdigkeit. Sie schützt den Rechtsbrecher so vor dem Missverständnis, er könne damit durchkommen. Hätte unser Nachbarland Polen diese Woche die Unabhängigkeit der Richter abgeschafft, wenn die Europäische Union und ihre Mitglieder von Anfang an konsequenter auf diesen klaren Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip reagiert hätten? Aus der Seitwärtsbewegung des Zeigefingers wächst noch keine Wertegemeinschaft. Da hilft nur ehrliche, harte Auseinandersetzung.