„Gewöhnen wir uns an Zustände, die unerträglich sind? Beunruhigt nehme ich jedenfalls wahr, dass man nach den Terroranschlägen immer schneller zur Tagesordnung übergeht.“

Der Sonnabend vor Ostern ist der Karsamstag – einer von drei Tagen, die man auch heilige drei Tage nennt, auf Latein triduum sacrum. Sie beginnen mit dem Karfreitag, dem Tag, an dem Jesus Christus nach der biblischen Überlieferung am Kreuz zu Tode gefoltert wurde. Der Ostersonntag ist der Tag der Auferstehung von den Toten. Der Karsamstag steht zwischen diesen beiden Polen. Es ein Tag der Grabesruhe, an dem Christus „hinabgestiegen in das Reich des Todes“ ist, wie es im Glaubensbekenntnis heißt.

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Wenn Sie diesen Text lesen, ist vermutlich Samstag, ein Tag mit vielen Möglichkeiten an einem langen Wochenende und obendrein voller Fußballfieber.

Das Imervard-Kreuz gilt als eine der kunsthistorisch bedeutendsten romanischen Skulpturen auf deutschem Boden.Foto: Thomas Ammerpohl
Das Imervard-Kreuz gilt als eine der kunsthistorisch bedeutendsten romanischen Skulpturen auf deutschem Boden.Foto: Thomas Ammerpohl

Wenn Sie das lesen, ist vermutlich Karsamstag. Glocken und Orgeln schweigen. Es ist ein Tag der Leere und der Agonie, ein Tag der begrabenen Hoffnungen. Einer der Tage, die man nicht haben will, schon gar nicht im Frühling. Denn wir sind nicht wirklich gut darin, Leere, Stillstand und Scheitern auszuhalten: nicht als Einzelne, nicht als Gesellschaft, nicht als Unternehmen. Vielmehr neigen wir dazu, solche Erfahrungen mit merkwürdigen Nachrichten von Trotzdem-Erfolgen und Eigentlich-Wahlsiegen umzudeuten oder die Stille mit diversen Events zu überdröhnen.

Dabei wäre es vielleicht heilsam und gut, sich einzugestehen, dass es anders gekommen ist und dass das schmerzt.

Karsamstag. Jesus Christus ist gekreuzigt, gestorben und begraben. Es gibt nichts mehr zu tun. Dieser Weg führt nicht weiter. Frische Trauer geht oft einher mit Empfindungslosigkeit. Es ist als wäre man mitgestorben und scheint egal zu sein, wie es weitergeht.

Ich erinnere mich sehr deutlich an dieses Gefühl der Ohnmacht und Agonie am Ende der DDR, als das Ausreisen „einfacher“ geworden war: Freunde verschenkten mühselig gesammelte und heiß geliebte Platten und Bücher, zu viel Ballast für die Ungarntour. Immer wieder fehlte jemand, ging irgendwo kein Licht mehr an. Man hörte auf nachzuhaken. Es war ein taubes und trübes Gefühl. Träume sind begraben. Zuversicht auch.

Erleben wir derzeit etwas Ähnliches? Gewöhnen wir uns an Zustände, die unerträglich sind? Berühren sie uns? Beunruhigt nehme ich jedenfalls wahr, dass man nach den Terroranschlägen, zuletzt in Stockholm, immer schneller zur Tagesordnung übergeht. Der Giftgasanschlag in Syrien, die Gefangenen in der Türkei, die Flüchtlinge, der Hunger –das sind Nachrichten, die unser Lebensgefühl färben aber unseren Alltag nicht prägen. Dazwischen kurzes Aufmerken: Was ist da los in Dortmund? Und ein bisschen nachhaltiger vielleicht die Sorge: Was ist mit unserer Demokratiefähigkeit? Sind wir uns ihrer so sicher, dass wir gar nicht merken, dass wir sie gefährden und verletzen, dass wir die Fähigkeit zu Streit und Diskurs mithin zu Urteilsbildung und Mehrheitsfindung verlernen?

Bewegt sich noch etwas? Oder ist der Stein vor dem Grab zu groß und zu schwer? Karsamstagsgedanken. Aber Karsamstag geht vorbei, Gott sei Dank. Auf die Erstarrung folgen Emotionen: Wut, Trauer, Zorn. Starke Gefühle, die der Ohnmacht trotzen sollen und aus dem Ruder laufen können. Es wäre einen Gedankengang wert, ob manche schlimme Parole oder Gewalttat hier nicht ihre Wurzeln hat.

Am Grab kann man nicht bleiben. Der Weg zurück ins Leben steht an und mit ihm das Bewusstsein, auf sich selbst geworfen zu sein, sich wieder neu entdecken und entwerfen zu müssen.

Auf die Dunkelheit, den Schmerz und die Leere folgt der Ostermorgen. Das Licht kommt zurück, das Leben und der helle Tag auch. Die Frauen, die am frühen Morgen zum Grab kommen, hören: Fürchtet euch nicht, lauft und beeilt euch, erzählt den anderen, dass Jesus Christus auferstanden ist, dass es hell wird unter uns, dass das Leben siegt! So klang es auch in der Heiligen Nacht, als plötzlich Licht um die Hirten war und sie gesagt bekamen: Fürchtet euch nicht, geht los und beeilt euch! Erzählt es allen! Das gilt auch heute wieder:

Der Herr ist auferstanden! Diese Nachricht setzt in Bewegung trotz aller Erfahrung von Stagnation und obwohl wir manchmal durch die Dunkelheit gehen müssen. Es ist eine Nachricht, die uns erinnert: wir sind mit Hoffnung im Wortsinne begabt. Und heißt das nicht auch: Gnade muss man nicht suchen. Gnade kann man finden. Dann, wenn Dinge zuende gehen und wir loslassen konnten, ohne bitter oder ignorant zu werden. Dann, wenn wir erleben, dass Menschen auf Hass mit Solidarität und Herzenswärme reagieren, dann, wenn wir in der Fülle des Lichtes am Ostermorgen sehen, was immer noch und immer wieder unter uns möglich ist.

Sollte es uns nicht gelingen, diese Geschichte und unsere eigene so zu erzählen, dass wir neu Lust bekommen, an unserer Gesellschaft mitzubauen, einander durch die Generationen zuzuhören und die Begegnung mit fremden Kulturen als Schatz zu empfinden? Könnte es nicht vielleicht sogar regelrecht befreiend sein, unseren Lebensstil zu hinterfragen und anderes zu probieren? So vieles wird denkbar.
„Fürchtet euch nicht!“
Es wird Ostern.
Gesegnete Ostern!