„Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst Deinen Nächsten lieben und Deinen Feind hassen. Ich aber sage Euch: Liebt Eure Feinde und betet für die, die Euch verfolgen, damit Ihr Söhne Eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“

Evangelium nach Matthäus

Sderot ist eine kleine Stadt. Etwas über 19 000 Menschen leben hier. Sderot liegt in der westlichen Negev-Wüste, nicht weit vom Gaza-Streifen. Es ist der wahrscheinlich unsicherste Ort der Welt.

Seit 2001 müssen weit über 10 000 Raketen über der Stadt niedergegangen sein, verschossen durch die Kassam-Brigaden der palästinensischen Hamas. Seit Israels Rückzug aus dem Gaza-Streifen nahm der Beschuss dramatisch zu. Der Raketenschrott türmt sich in Sderot zu einer metallischen Mahnung, jeden Augenblick mit dem Tod zu rechnen.

Sderot ist eine Stadt in permanentem Alarmzustand. Man hat ein lasergestütztes Raketenwarnsystem installiert, das meistens funktioniert, aber wenig Zeit bringt. Den Menschen bleiben 15 Sekunden, um sich vor den Raketen in Sicherheit zu bringen. Egal, ob sie ihre Babys stillen, unter der Dusche stehen oder an der Werkbank. Schutzräume sind in der ganzen Stadt gegenwärtig. Immer wieder gibt es Tote.

Warum setzen sich Menschen dem Leben unter solchen Bedingungen aus? Aron Schuster, Bürgermeister der um Sderot liegenden Gemeinden, hat es dem „Welt“-Reporter Philip Kuhn so beschrieben: „Meine Familie ist vor den Nazis aus Deutschland geflüchtet, über Argentinien, es war eine Odyssee. Für uns war Israel das gelobte Land, ein sicherer Hafen. Wir werden nicht aufgeben.“ Zwei Fünftel der Einwohner Sderots hatten diesen Hafen erst nach 1990 angelaufen, aus der ehemaligen Sowjetunion kommend. Offensichtlich mit demselben Gefühl, endlich eine Heimat gefunden zu haben.

An Sderot soll an dieser Stelle erinnert werden, weil angesichts der jüngsten Eskalation der Gewalt zwischen Israel und der Hamas eine Schieflage der Wahrnehmung droht. Auch in seriösen Medien war zu hören und lesen, Ausgangspunkt der Gewalt sei die gezielte Tötung des Hamas-Militärchefs Ahmed al-Dschabari durch die israelische Luftwaffe gewesen. Die Autoren solcher Sätze blenden aus, dass dem israelischen Luftangriff eine Vielzahl von Raketenangriffen der Hamas vorausgegangen war. Sie vergessen, wie viele Israelis in Angst vor den Raketen der Hamas leben – nun auch in Tel Aviv und Jerusalem. Bei aller notwendigen Kritik an der Politik der israelischen Regierung verbietet sich diese Verkürzung.

Der Braunschweiger Domprediger Joachim Hempel hat kürzlich bei einem Vortrag sehr zurecht darauf hingewiesen, dass der israelische Mauerbau kein Beitrag zur Versöhnung ist. Auch die seit Jahrzehnten andauernde Militärregierung, die den Palästinensern elementare Bürgerrechte vorenthält, und auch der massive Ausbau der Siedlungen durch Israel verschärfen die Lage. Beide Seiten, sagt der Orientkenner, sollten sich endlich mit Wegen zum Frieden beschäftigen, statt die Konfrontation zu perfektionieren.

Hempels Ansatz unterscheidet sich von den unerfreulichen Debatten der letzten Zeit, die nur noch dem Austausch von Feindbildern dienen. Wenn dabei Israels Umgang mit den Palästinensern verglichen wird mit Deutschlands Verbrechen an den Juden, dann ist die Grenze zur Geschichtsfälschung weit überschritten. Die Verbrechen der Nazis werden so nur verharmlost.

Auch die in Mode gekommenen Vergleiche zwischen Israel und dem Iran verweisen auf eine bedrohliche Verschiebung der Maßstäbe. Das Leben in einer noch so fehlerhaften Demokratie ist nicht mit demjenigen in einer islamistischen Diktatur vergleichbar, wo Opposition lebensgefährlich ist und Frauenrechte abgeschafft sind. Selbstverständlich muss es möglich sein, Israels Fehler beim Namen zu nennen. Das bedeutet aber keinen Freibrief für die Vergewaltigung der Tatsachen.

Beklagenswert sind die Umstände, die zu der heutigen Situation geführt haben. Die Verfolgung der Juden, die leichtfertige Nahostpolitik Großbritanniens in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit der Folge der Vertreibung der Palästinenser, all das gehört zur Vorgeschichte der akuten Kriegsgefahr.

Der Blick zurück führt aber nicht zur Lösung. Israel besteht zurecht auf der Sicherheit seiner Bewohner, die Palästinenser wehren sich nicht grundlos gegen ein rechtloses Leben unter Militärdiktat. Beide Seiten bräuchten starken Willen zum Frieden, um den Weg des vertrauenden Zusammenlebens zu gehen. Und sie bräuchten den Friedenswillen der regionalen und globalen Großmächte. Solange es dazu nicht kommt, werden die Menschen in Furcht leben. In Gaza, in Sderot.