Goslar. Heinrichs Huld und Hannes Hintern: Eine Bummelei durch Goslars Altstadt zeigt, warum die Stadt so stolz auf sich ist.

Glückauf, der Kaiser kommt! In die Kaiserstadt! Zur Kaiserpfalz! Fehlt noch Kaiserwetter…

Nein, ich erzähle keinen Kaiserschmarrn, auch wenn es an runden Geburtstagen gern mal albern zugeht. Die Stadt Goslar lässt es in diesem Jubeljahr so richtig krachen. Und am 17. Juni tritt wirklich Roland Kaiser (Kennerinnen und Kenner wissen, dass er als Ronald Keiler geboren wurde, 1952 übrigens, oh, gleich der nächste runde Geburtstag!) vor der Keiler-, nein: Kenner-, nein: Kaiserpfalz auf, um unter freiem Himmel über freie Liebe und so Sachen zu singen. Ferner im Programm im Juni und bis Jahresende: Auftritte von Santiano und Sarah Connor, ein ganz spezielles Konzert namens „Pfalzklänge“ (mit dem Landespolizeiorchester und Natalia Klitschko), dazu Feste, Umzüge, Bälle, Ausstellungen, Vorträge, Grillmeisterschaft und Videomapping, wovon noch die Rede sein wird. Also allerhand.

Der Anlass ist ja auch nicht ohne. Stadtjubiläum. 1100 Jahre, bis dahin müssen sie in den Marketing-Abteilungen anderer Städte noch viele, viele Faltblätter falten. Doch da Kennerinnen und Kenner bereits erwähnt wurden: Natürlich wissen die auch, dass geschichtliche Einordnungen stets diskussionswürdig sind. Wie sagte Voltaire über das Heilige Römische Reich? Es sei weder heilig, noch römisch, noch ein Reich… Und ist nicht die Stadtgeschichte, sind nicht Ersterwähnungen und Jubiläen ein Tummelplatz des lokalpatriotischen Frisierens und geschichtsklitternden Zurechtfummelns? Frage jetzt also: Stimmt das denn alles überhaupt mit Goslars stolzem Alter? Und weil wir schon mal dabei sind: Warum, zum Teufel, entblößt die Butterhanne so frivol ihr Hinterteil?

Goslar ist keine Puppenstube

Natürlich hätte ich solche Fragen jetzt hier nicht so dicke aufgeworfen (sagen wir: wie mit der „Hillebille“ angeschlagen, um auch das uralte Harzer Signalinstrument einmal zu erwähnen), wenn ich die Goslarer Altstadt nicht drei Stunden lang mit einer beseelten Expertin durchquert hätte. Dagmar Koroma heißt sie und hat all so etwas auf der Pfanne – und einiges mehr. Wunderschön ist diese Altstadt, jawohl, das muss vorweg schon einmal raus. Klar, einerseits leben in dieser Stadt sozusagen normale Menschen ihr

Dagmar Koroma auf dem Marktplatz unterm Adler.
Dagmar Koroma auf dem Marktplatz unterm Adler. © Likus | Likus, Harald

sozusagen normales Leben – ich weiß das aus allererster Hand, ich war selbst mal so einer –, andererseits gibt es halt unnormal viel Glanz von anno dunnemals. Dabei ist Goslar keine Puppenstube. Eine gewisse Mittelstadt-Tristesse weht einen nicht nur vor einer gleichsam abgenagten Imbissbude an, neben der ich später mal verschnaufe. Eine Frau guckt mürrisch herüber, bevor sie weiter mit einem Rollwägelchen übers Kopfsteinpflaster klappert. Aber die Bummelei durch die von Weltkriegsbomben verschonte Altstadt, die hat jenen besonderen historischen Charme für den viele Menschen sehr empfänglich sind. Ja, ja: „Ich fand ein Nest mit meistens schmalen, labyrinthischen Straßen“, auch dieser wenig schmeichelhafte Satz Heinrich Heines gehört in jede grundsätzliche Goslar-Betrachtung. Aber vielleicht war er auch nur schlecht drauf – oder ihm schwante sogar, dass mokante Sprüche von gewissen Leuten irgendwie mehr wert sind als Elogen von der Stange.

Zu Beginn unseres Streifzugs führt mich Dagmar Koroma zum Stadtarchiv. Wie gesagt: zum, nicht ins – das genaue Studium der mittelalterlichen Urkunden sparen wir uns, höhö, für andermal auf. Dagmar Koroma ist gelernte Übersetzerin, keine Mediävistin im engeren Sinne. Doch sie kennt sich aus. Als besonders versierte Stadtführerin ist sie Teil einer kleinen Szene, die ich jetzt einfach mal „Goslaristen“ nenne. Für die, so kann man es vielleicht sagen, ist die Vergangenheit weniger vergangen. Ein bitteres Datum der Stadtgeschichte erwähnt Dagmar Koroma zum Beispiel wie folgt: „1802 haben wir leider die Reichsfreiheit verloren…“ Und bevor wir – wie gesagt: ohne Reichsfreiheit, aber ansonsten guter Dinge – das Archiv erreicht haben, sind wir auch schon mit einem Mann ins Gespräch geraten, der nebenbei anmerkt, er stehe kurz vor der Vollendung eines wegweisenden Vortrags über die 800-jährige Geschichte des Goslarer Schützenwesens. Leider müsse er jetzt aber weiter, da er einer Gruppe die Pfalz zu zeigen habe…

Wie war das mit der Stadtgründung?

Am Archivgebäude sind die wichtigsten Jahreszahlen der Stadtgeschichte in Metall angebracht. Nach einer Weile – es sind schon einige – haben wir die gefunden, auf die das Jubeljahr gegründet ist: 922. Also, was war da los? Die Antwort ist natürlich vertrackt. Das beginnt damit, dass so verwirrend viele Herrscher Heinrich hießen. Ich mache es kurz, aber da müssen wir jetzt durch! Von Heinrich II. dem letzten Ottonen, weiß man, dass er im Jahr 1024 schwerkrank (Steinleiden!) zwei sicher wenig schöne Monate in Goslar verbrachte. Sodann müssen die beiden wichtigen salischen Kaiser erwähnt werden: Heinrich III. (1017-1056), der Goslar zum wirklich herausgehobenen Zentrum seiner Regentschaft machte, und sein vermutlich sogar in Goslar geborener Sohn Heinrich IV. (1050-1106, ja der Büßer von Canossa!). Und was ist mit 922? Nun, als Gründer der Siedlung gilt der ostfränkische König Heinrich I. (um 876-932), was daran liegt, dass im 12. Jahrhundert eine Chronik entstand, deren Autor als „Annalista Saxo“ bezeichnet wird. In ihr wird für das Jahr 922 mit Blick auf Heinrich die Gründung erwähnt („vicum Goslarie construxit“). Ob das nun so genau stimmt oder ob das nur der Versuch eines Chronisten war, die Traditionslinien bestimmter Herrscherhäuser zu verbinden – schwer zu sagen. Fest steht hingegen, dass schon im hohen Mittelalter Silber, Kupfer und Blei aus dem Rammelsberg (dem „Schicksalsberg“ der ganzen Gegend) als etwas Hochwichtiges galten, Erze, die man übrigens schon viele Jahrhunderte früher am Rammelsberg zu „verhütten“ begonnen hatte.

Alle Klarheiten beseitigt? Zum Glück fasst Dagmar Koroma die drei Voraussetzungen für den hochmittelalterlichen Glanz am Nordharz nochmal schön simpel zusammen. 1.: Bodenschätze. 2. Wasser (Gose bzw. Abzucht), 3. Handelswege (Ost-West-Achse, grob der A2 entsprechend). Natürlich kam es auch vor Jahrhunderten erstmal aufs Geld an. „Das Schicksal der Stadt hing vom Berg ab“, sagt die Führerin und spricht eine schmerzhafte Flaute zwischen 1350 und 1450 an und auch die Eintrübungen, die mit der Bodenschatz-Konkurrenz der Kolonien zu tun hatten. Auch die Braunschweiger Herzöge müssen jetzt erwähnt werden. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts geriet einer von ihnen (Sie ahnen, wie der hieß) mit der Goslarer Bürgerschaft in Streit, in dem es sowohl um den Rammelsberg als auch um religiöse Fragen ging. Der „Riechenberger Vertrag“ (1552) war es schließlich, der das Vorkaufsrecht an den gewonnenen Metallen den geldgierigen Herzögen sicherte.

Was ist an der Kaiserpfalz so toll?

Dagmar Koroma und ich sind jetzt unterhalb der Kaiserpfalz angelangt. Sie zeigt mir die nördliche Vorhalle, den einzig verbliebenen Rest des Domes. Die Köpfe von dessen Stiftsheiligen Simon und Judas legen friedlich daneben – als Skulpturen des Bildhauers Iskender Yediler aus dem Jahr 2013. Wie ja überhaupt Goslar (Stichwort Kaiserring!) schon der Kunst wegen ein paar Besuche wert ist. Hierzu ein kleiner Tipp: Wer die Internet-Adresse geoportal.goslar.de ins Smartphone klopft, sieht, wo genau die zum Teil eminenten Werke der Kaiserringträger zu finden sind.

Die Kaiserpfalz in Goslar – Schauplatz der spektakulären Videomapping-Shows, die im September wiederholt werden.
Die Kaiserpfalz in Goslar – Schauplatz der spektakulären Videomapping-Shows, die im September wiederholt werden. © dpa | Swen Pförtner

An der Pfalz selbst, vor der wir jetzt tatsächlich den erwähnten Schützen-Historiker vor einer Gruppe gestikulieren sehen, kriegt man immer wieder diesen Historismus-Flash. Oh ja, so wollte man im 19. und frühen 20. Jahrhundert das Mittelalter darstellen. Nun waren es die Preußen, die Traditionslinien behaupteten und Kaiser Wilhelm I. und Barbarossa nebeneinander mächtige Denkmäler bauten, hoch zu Pferde gleich neben dem welfischen Löwen. Die staunenswerten Wandmalereien im Inneren sind ganz ähnlich gedacht (und sowieso der Wahnsinn). Kurzum: Dieser Platz hat was. Die Umgestaltung des „Pfalzquartiers“, wie sie nach langem Hin und Her nun beschlossen ist, soll diesen Effekt noch verstärken. Und apropos effektvoll: Zur fünfzehnminütigen Videomapping-Show, bei der Ende April abends Impressionen der Stadtgeschichte auf die Fassade der Pfalz projiziert wurden, kamen die Leute gern. Vom 7. bis 25. September, jeweils 21.15 Uhr, wird sie vor Ort wiederholt.

Kann man in Fachwerk schwelgen?

Dagmar Koroma braucht derlei, was den Informationsgehalt angeht, nicht anzuschauen. Sie kommt aus Immenrode, Jahrgang 1959. Immenrode wie überhaupt Vienenburg gehören heute zu Goslar. Dank der Fusion zählt die Stadt, die seit den 90ern manche Rückschläge und viel Abwanderung zu verwinden hatte, jetzt auch wieder 50.000 Einwohner. Als Schülerin in Goslar, gibt Dagmar Koroma zu, sei sie an den städtischen Sehenswürdigkeiten eher achtlos vorbeigelaufen. Nun aber ist mehr als eine Grille oder ein Hobby daraus geworden, nun erfüllt sie all dies mit einem echten, wiewohl nicht auftrumpfenden Stolz. All dies? Ja, wir entscheiden uns jetzt gegen den Rammelsberg, gegen das Breite Tor, gegen Zwinger, Mönchehaus und diverse andere Dinge, gönnen uns einen unfromm kurzen Abstecher in die Marktkirche (die edlen Fenster, die typisch protestantische Messingtaufe von 1573!) und wollen vor allem nun so richtig in Fachwerk schwelgen. Kaiserbleek, Marktplatz, Bergstraße… Umwerfend schöne Häuser bezeugen einstigen Reichtum.

Das Herz Goslars. Der Marktplatz, auf dem zum Beispiel auch der beliebte Weihnachtsmarkt stattfindet.
Das Herz Goslars. Der Marktplatz, auf dem zum Beispiel auch der beliebte Weihnachtsmarkt stattfindet. © dpa | Swen Pförtner

168 erhaltene Gebäude in der Stadt sind älter als fünfhundert Jahre, 1000 erhaltene Gebäude wurden vor 1850 errichtet. Wir schauen Schnitzereien an, entdecken eine hübsche Neidabwehr-Maske, versuchen Sinnsprüche zu entziffern, betasten besondere Schieferverkleidungen, staunen darüber, wie reizvoll ein ehemaliger Pflanzenforschungs-Professor am Julius-Kühn-Institut das Haus namens „Oberes Wasserloch“ in Szene gesetzt hat, und sprechen über Gilden und Zünfte. Hier ist die erfahrene Führerin in ihrem Element, erzählt die kleinen Geschichten, die gut ankommen.

Was verbirgt sich hinter der „Schwiegermutter-Tür“?

Natürlich diente die oben an einem besonders prächtigen Bergstraßen-Haus angebrachte „Schwiegermutter-Tür“ nicht dazu, eine womöglich ungeliebte Verwandte hinauszuwerfen, aber der Begriff, nun ja, ist halt zum Schmunzeln. Sieh an, die bedeutende Familie Siemens ist eigentlich von hier! Aha, das Rathaus, stellte sich neulich erst heraus, ist noch älter als gedacht. Oho, der gekrönte und stets so munter wirkende Marktplatz-Adler schaut ja wirklich nach Westen. Und der „Gebeinkeller“ am Rathaus ist ebenso neu hergerichtet worden wie der wirklich einladende „Kulturmarktplatz“ neben Stadtmuseum und Zinnfigurenmuseum unten am Flüsschen. Ja, sie setzt sich mehr und mehr ins rechte Licht, die schmucke, selbstbewusste Stadt, auch unabhängig vom Jubeljahr. Einmal gucken reicht vorne und hinten nicht.

Zum Beispiel hätte ich jetzt fast die Butterhanne vergessen, jenes Relief an dem alten Patrizierhaus namens „Brusttuch“. Mit dem einen Arm stößt sie Butter, mit dem anderen lüftet sie ganz schamlos ihr Kleid, während vom Nachbarrelief der Teufel geil herüberglubscht. Was ist das denn jetzt hier für eine frauenfeindliche Schweinerei, Frau Koroma? Nein, nein, die Stadtführerin gibt Entwarnung. Erstmal zitiert sie den hier passenden Spruch – „Die linke Hand am Butterfass/ die rechte am Gesäße/ so macht man hier in Goslar/ den guten Harzer Käse“ – und dann erklärt sie’s: Dem Teufel den nackten Hintern zu zeigen, galt als Abwehrzauber gegen böse Mächte. Die Hanne wollte also eigentlich nur, dass ihre Arbeit nicht misslingt. Dass alles in Butter ist. Wer wollte das nicht?