Helmstedt. Das 19. Jahrhundert sah gleich mehrere medizinische Paradigmenwechsel. Ein Experte erklärt die Details – am Beispiel der Helmstedter Klinik.

Das Krankenhaus St. Marienberg in Helmstedt hat seine Wurzeln Ende der 1860er-Jahre – seine Anfangszeit ist eng verknüpft mit der Industrialisierung. Der Bau einer Eisenbahnstrecke gab den Ausschlag für die Gründung des Spitals, da die ortsfremden Menschen, die sich bei der Arbeit verletzten, gepflegt und versorgt werden mussten.

Doch auf welchem Stand befand sich die Medizin in dieser Zeit? Wessen waren die Ärzte fähig, welche Möglichkeiten hatten sie, welche Erkenntnisse galten Ende des 19. Jahrhunderts? Einer, der sich auskennt, ist Prof. Dr. Thomas Schnalke. Der Professor für Medizingeschichte und Medizinische Museologie ist der Direktor des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité.

Als er von unserem Thema hört, ist er gleich hellwach: Eine hochspannende Zeit sei es gewesen, in die die Gründung des Helmstedter Krankenhauses fiel. „Wir sprechen über die Kernphase der Entstehung der modernen Hygiene in der Medizin“, sagt er. Es sei das Jahrhundert gewesen, in dem die Medizin erstmals als angewandte Naturwissenschaft gesehen wurde, und nicht als Naturphilosophie, wie in den Jahrhunderten davor. „Die Vier-Säfte-Lehre hatte bis dahin das Imperativ der Medizin dargestellt“, sagt Schnalke, „vielerorts glaubte man an eine immaterielle Lebenskraft im Körper, die durch den Mangel oder Überfluss bestimmter Stoffe ins Wanken kommen konnte. Aus dem Ungleichgewicht der Säfte, so nahm man an, entstand Krankheit.“

Professor Dr. Thomas Schnalke ist Professor für Medizingeschichte.
Professor Dr. Thomas Schnalke ist Professor für Medizingeschichte. © imago / Rolf Kremming | imago stock&people

In den 1830er-Jahren sei die Medizin an einen Kipppunkt gelangt. Nur, was mit biologischen, physikalischen und chemischen Methoden nachvollziehbar festgestellt werden konnte, galt. Eine naturwissenschaftliche, empirische Herangehensweise entwickelte sich. Mitte der 1850er-Jahre entdeckte Rudolf Virchow, dass der Körper aus Zellen aufgebaut ist. Die Körperzelle als kleinste Einheit des Lebens beherrschte nun die medizinische Forschung. Ein Paradigmenwechsel.

„Die Einteilung in gesunde und kranke Zellen brachte auch für die Chirurgie eine neue Handlungskante“, sagt Schnalke. Eine weitere bahnbrechende Entdeckung war die Entdeckung des Äthers als Narkosemittel in den Jahren 1846/1847. „Die Möglichkeit, Patienten in einen schmerzlosen Schlafzustand zu versetzen, bot der Chirurgie für ihre Eingriffe beste Voraussetzungen“, so Schnalke.

Robert Koch und Paul Ehrlich – die Forschung nimmt Fahrt auf

Ab den 1860er-Jahren folgten entscheidende Entwicklungen in der Hygiene-Forschung. Der englische Chirurg Josef Lister entdeckte, dass Karbolsäure Keime abtöten konnte. Auch Dr. Walkhoff, der 1888 den Krankenhausbericht über die Arbeit des Helmstedter Spitals verfasste, berichtet von deren Anwendung. „Die Chirurgie wurde schmerzfrei, gezielt, sauber – das erbrachte ihr einen großen Aufschwung“, erklärt Schnalke.

Vor dem Hintergrund derartiger Entdeckungen trat die Bakteriologie auf den Plan. Der Mediziner Robert Koch entdeckte 1882 den Erreger der Tuberkulose, nannte ihn „Tuberkel-Bazillus“, und begründete die moderne Bakteriologie. „Man erkannte, dass es externe Erreger gibt, die den Körper krank machen, und dass Krankheit nicht immer von innen kommt“, so Schnalke.

Was heute selbstverständlich klingt, sorgte damals für Furore. Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Diphtherie oder Tetanus forderten jedes Jahr zahllose Todesopfer. Durch die veränderten Lebensumstände der Menschen in der Industrialisierung, dem rapiden Bevölkerungszuwachs in den Städten und den schlechten Arbeits- und Hygienebedingungen hatten Keime leichtes Spiel. „Unglaublich viele Menschen, insbesondere Kinder, waren von Krankheiten wie der Diphtherie betroffen“, sagt Schnalke, „vor allem die Tuberkulose aber trieb Menschen und Medizin um. Das war die große Frage der Zeit.“

Das von Robert Koch 1890 auf den Markt gebrachte Mittel „Tuberkulin“ versagte zwar und verschlimmerte zum Teil die Symptome. Doch die Forschung verlor nicht an Fahrt. Gegen Bakteriengifte wurden erste Impfseren aus dem Blut kranker Tiere gewonnen. Paul Ehrlich entwickelte schließlich 1910 das erste Chemotherapeutikum, das seine Wirkkraft gegen den Syphilis-Erreger unter Beweis stellte.

Wie viel davon in den Jahren nach der Gründung im Helmstedter Krankenhaus St. Marienberg angewandt wurde? Schwer zu sagen. „Die Entwicklung war sehr dynamisch“, sagt Professor Schnalke, „es würde mich nicht wundern, wenn in den ersten Jahren noch eine eher naturphilosophisch ausgerichtete Medizin zum Einsatz kam.“ Der Krankenhausbericht aus 1888 lässt dabei darauf schließen, dass mindestens in der Chirurgie schon gute hygienische Standards geherrscht haben.

Wie wurden aber Infektionspatienten behandelt? Der Jahresbericht aus dem Helmstedter Spital gibt darüber keinen Aufschluss. „Man kannte Fiebermittel, zum Beispiel die Chinarinde“, erklärt Thomas Schnalke, „aber kaum andere, in heutigem Sinne wirksame Medikamente für innere Kernkrankheiten.“ Die Syphilis habe ein großes Problem dargestellt. „Man wusste, dass die Symptome durch Quecksilber gelindert werden konnten. Die Behandlung hatte jedoch für die Patienten Nebenwirkungen, die wir heute als Zeichen einer Vergiftung deuten müssen.“

Auch Krebsleiden waren Ende des 19. Jahrhunderts – wie in jedem Zeitalter der Menschen bisher – ein großes Thema, ebenso wie die Gefahren der Geburt. „Das Risiko des Muttertodes war seit Alters her sehr hoch“, sagt Schnalke. Das änderte sich in den 1840er Jahren. In Wien fiel es dem Geburtshelfer Ignaz Semmelweis auf, dass Studierende, die aus dem Unterricht im Seziersaal kamen, um auf der Gebärstation das praktische Entbinden zu üben, reihenweise die werdenden Mütter infizierten. Viele Frauen starben am Wochenbettfieber, da die Leichenkeime in die Gebärmutter wanderten und über die Plazenta-Wunde den Organismus infizierten. „Die Handwaschung mit Chlorkalk, die Semmelweis daraufhin einführte, war ein unglaublicher Erfolg“, sagt Thomas Schnalke.

Das Krankenhaus war noch Ende des 19. Jahrhunderts ein Ort für die ärmere Bevölkerung. Wer es sich leisten konnte, rief Arzt oder Hebamme zu sich nach Hause. Diakonissenanstalten wie auch andere christliche oder klösterliche Einrichtungen, wie das Krankenhaus St. Marienberg ganz zu Anfang eines war, konzentrierten sich neben einer medizinischen Grundversorgung stark auf die Krankenpflege, erklärt Schnalke.

Die ärztliche Behandlung dieser Jahre basierte oft noch auf recht einfachen Prinzipien. Wer in den Gründungsjahren des Helmstedter Spitals mit Tuberkulose eingewiesen wurde, musste sich sehr wahrscheinlich einem gewissen Regime unterordnen, beschreibt Schnalke. „Zur Therapie gehörten die Fiebersenkung, eine ausreichende, wenn möglich fleischreiche Kost zur Stärkung sowie viel Licht und Luft“, sagt der Medizinhistoriker. An den zahlreichen in jener Zeit gebauten Lungenheilstätten wurde dieser Therapieansatz zum Prinzip.

Insgesamt lagen die Patienten oft viel länger in den Kliniken als heute. Was wiederum Risiken barg. „Manche starben an den Krankheiten, die sie mitgebracht hatten. Andere an neuen Keimen, mit denen sie sich im Krankenhaus infizierten“, so Schnalke. Die Dampfdrucksterilisation, die um 1890 eingeführt wurde, half, hygienischere Bedingungen zu schaffen. Die Anästhesie sowie das Röntgenverfahren, erfunden 1895, hätten sich wie Lauffeuer verbreitet, beschreibt Professor Schnalke.

In anderen Bereichen sei die Umsetzung viel langsamer erfolgt. Dazu zähle auch die Hygiene. „Zum Teil kämpfen wir ja heute noch mit der Durchsetzung entsprechender Maßnahmen“, sagt er, vor allem mit Blick auf den Lebensalltag. Händewaschen, Abstand, Masken: Erst die Corona-Pandemie habe vielen Menschen gezeigt, mit welchen einfachen Mitteln sich Infektionskrankheiten vermeiden lassen. Und doch. „Das Verhalten der Menschen zu ändern, dauert lange“, sagt Medizinhistoriker Schnalke.