Marienborn. Die Gedenkstätte Marienborn bei Helmstedt erinnert an die Grausamkeit der Grenzer. Zum Beispiel gegenüber einem hilfsbereiten Schmied.

August Kratzin zum Beispiel. Er war Schmied in Stapelburg. Eigentlich wollte er nur einer Frau den Weg weisen, die ihn angesprochen hatte. Sie wollte zur Hochzeit ihres Bruders. Deshalb wurde er erschossen. Bauchdurchschuss an der innerdeutschen Grenze. Lange her? Ja, aber… Am Abend der Ausstellungseröffnung in Marienborn erreichen wir seine Enkelin am Telefon. Sie ist nur kurz erstaunt über die unvermittelte Konfrontation mit schmerzlicher Familiengeschichte. „Es wurde so selten darüber geredet. Aber es ist gut, dass Sie anrufen. Am tragischsten finde ich, dass man den Opa hätte retten können, wenn man ihn vernünftig behandelt hätte. Aber das geschah nicht. Und so ist er verblutet. Ein Jammer. Ich werde auf jeden Fall dahin fahren, mit dem Neffen.“

Bevor wir auf Kratzin zurückkommen: Das Wort „dahin“ bezieht sich auf die „Gedenkstätte deutsche Teilung“ in Marienborn. Dort war bis 1989 der größte Grenzübergang an der 1400 Kilometer langen innerdeutschen Grenze. Und dort gibt es in der Dauerausstellung einen neuen Raum, in dem sieben tödliche Grenzgeschichten vorgestellt werden. Kurz vorgestellt, muss man sagen. Es geht um einen kleinen weiteren Raum der an sich großen Schau in dieser wichtigen Gedenkstätte.

Marienborn – ist das nicht diese Sache da hinter Helmstedt an der Autobahn? Und wie! Vom Rastplatz nebenan aus sieht und hört man den Verkehr aus der Braunschweiger in die Magdeburger Richtung ballern. Auf dem Rastplatz hupt und hupt ein entnervter Busfahrer aus Ulm, weil seine Fahrgäste bei der Bockwurst sitzengeblieben sind und auf der Terrasse den schönen Maientag genießen.

Auch in der ehemaligen DDR-Grenzer-Kantine, die heute eigentlich „Raum der Stille“ ist, hört man das Summen und Brummen der A2. Und vorn steht Thomas de Maizière und hält eine Rede, denkt man im ersten Moment. Es ist aber gar nicht der Ex-Minister, sondern der (ihm etwas ähnelnde) Dr. Kay Kufeke. Der Historiker hat die sieben schlimmen Geschichten ausgewählt, um die es geht. Vor immerhin 20 Journalisten spricht er. Als Reporter, der vor der Abfahrt noch – von einem Mitglied der jüngeren Generation – gefragt wurde, warum man, während aktuell der Krieg in der Ukraine tobt, in ein Museum fährt, um sich alte Geschichten anzuhören, empfindet man die Anwesenheit der Kollegen als Bestätigung. Die Grenzgeschichten gehen uns immer noch an! Sie sind lange her, aber sie bleiben relevant und mahnend und all so was. Ostalgie? Vergiss sie! Und was ist heute (!) mit Korea? Ach ja, um einen an der Grenze erschossenen Ukrainer geht’s übrigens auch in der Schau…

„Technische Radikalisierung“

Die Schau also. Sieben Geschichten. Kufeke kennt die komplizierte Debatte über die Zahl der Todesopfer. Es werden wohl mehr sein, aber er geht von mindestens 200 klar zu belegenden Fällen aus. Der Rahmen wird durch Jahreszahlen gesetzt, die nicht nur Historiker kennen. 1949 wurden die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik gegründet. 1952 begann die DDR, die Grenze (verboten war der Übertritt auch vorher) durch Stacheldraht und Bewachung systematisch abzudichten. Plus Sperrzone! 1961 folgte der Mauerbau: Berlin wurde abgeriegelt. Plus Minen! Kufeke nennt das „technische Radikalisierung“. 60.000 Splitterminen, also Selbstschussanlagen oder „Todesautomaten“, gab es nach 1971.

Die Motive der Menschen, die trotz alledem die Grenze illegal überqueren wollten, kann man nicht über einen Kamm scheren. In der frühen Phase ging es oft um Einkäufe, um Abstecher von Ortskundigen, die – auch wenn sie erwischt wurden – mit kurzer Haft oder einer Geldstrafe davonkamen. Später ging dem Versuch oft eine bewusstere Entscheidung voraus – der einen, weil sie den sozialistischen Staat grundsätzlich ablehnten, der anderen, weil sie sich persönlich im Westen eine bessere Zukunft erhofften. Seit den 60ern waren es zumeist junge Männer, die „es“ wagten.

Illustration Marienborn
Illustration Marienborn © Jürgen Runo | Jürgen Runo

Das Beispiel Gerhard Oelze

Eine frühe Tragödie handelt vom Tod des Magdeburgers Oelze. 1950 kamen der 30-Jährige und ein Freund vom Trip über die „grüne Grenze“ zurück. Sie hatten im Westen Fahrradersatzteile besorgt, wurden von Grenzern bei Walbeck (Oebisfelde) entdeckt. Den Berichten zufolge fuhren sie auf ihren Rädern trotz der Warnschüsse weiter. Dann schoss ein Grenzsoldat gezielt. Gerhard Oelze wurde getroffen und war tot, als der Arzt eintraf.

Das Beispiel Fred Woitke

Die spektakulärste Geschichte spielt 1973. Fred Woitke, ein 23-jähriger Arbeiter aus Eisenhüttenstadt (ein Foto in der Schau zeigt ihn mit weißem Rollkragenpullover und ernstem Blick), plante mit zwei Kollegen ein großes Ding. Sie beschlossen, die Grenzanlagen bei Marienborn mit dem Lkw zu durchbrechen. Den motzten sie mit einem Schneeschild und einem aus Teppichen und Decken bestehenden Kugelfang auf. Hundert Schüsse gaben die Grenzer auf das Gefährt ab. Die ersten Sperren schaffte der Lkw, doch an der Rollsperre überschlug er sich. Zu Fuß versuchte Woitke zu entkommen, doch es wurde weiter geschossen – und „Grenzverletzer“ Woitke tödlich verletzt.

Das Beispiel Nikolai Gal

Der erwähnte Ukraine-Bezug der kleinen Schau hat damit zu tun, dass wiederholt nicht nur Fluchtversuche von ehemaligen DDR-Grenzsoldaten, sondern auch von desertierenden sowjetischen Soldaten vorkamen. 1984 entschloss sich der in Dnipropetrowsk geborene Nikolai Gal, auch er Anfang zwanzig, mit einem Kameraden zur Flucht. Die beiden zwangen bei Blankenburg einen Traktorfahrer mit vorgehaltener Waffe dazu, sie zur Grenze zu fahren. Dort trennten sie sich. Gal war bei Benneckenstein zu Fuß unterwegs, als er von einem Suchtrupp gestellt wurde. Angeblich brachte der Ukrainer die Waffe in Anschlag, so dass, wie es im Bericht hieß, ein Offizier, „die Gefahr für Leben und Gesundheit der eingesetzten Kräfte erkennend“, den Flüchtling mit Feuerstößen aus der Maschinenpistole tötete.

Das Beispiel der Kusnatzkys

Darauf, wie verschieden die Geschichten sind, verweist die Tafel, die an Anita und Heinz-Jürgen Kusnatzky erinnert. Das Ehepaar wohnte in Marl, NRW. Offenbar weil sie sich verfahren hatten, vielleicht auch, weil sie Anweisungen missachteten, gerieten sie in die Grenzanlagen – und prallten mit ihrem Mercedes gegen die Rollsperre. Der Wagen geriet in Brand, beide starben. Unter der Überschrift „Unglück in Marienborn aufgeklärt: SED-Mordfalle tötete Ehepaar“ berichtete die „Berliner Morgenpost“.

Das Beispiel August Kratzin

Der Schmied aus Stapelburg wurde schon erwähnt. Er starb 1951, wenige hundert Meter von seinem Haus entfernt, als er einer Frau den Schleichweg durchs Eckertal über die Grenze zeigen wollte. Bemerkenswert an dem Fall ist, dass Kratzin zunächst mit dem Grenzsoldaten diskutierte, bevor er plötzlich die Flucht ergriff und getötet wurde. Auch besonders: Der anschließende Unmut von Stapelburger Jugendlichen ist dokumentiert. Einige zogen mit Knüppeln los, um sich am Schützen zu vergehen. Sie wurden gefasst und eingesperrt – der Schütze entlastet.

Ja, all dies ist lange her. Die Enkelin des Opfers ist erst acht Jahre danach auf die Welt gekommen. Und doch werde ihr nun immer klarer, wie stark die sorgsam beschwiegene Geschichte ihre Familie geprägt habe, sagt Ilona Kratzin. Ihr Vater habe erst spät, dann jedoch ausführlich über diesen Einschnitt seines eigenen Lebens gesprochen. Doch, sie sei schon „ein kleines bisschen stolz“, dass ihr Opa jetzt Teil der Dauerausstellung in Marienborn ist, sagt Ilona Kratzin. Deshalb habe sie ja auch, „trotz des doofen Bärtchens“, das übrigens bloß nicht politisch zu verstehen sei, wie sie sagt, ein Foto des Großvaters zur Verfügung gestellt. Und deshalb fahre sie bald nach Marienborn. Ihr Neffe müsse nur Zeit haben. Der sei sehr interessiert. Mit dem wolle sie das gemeinsam erleben.

Tja, natürlich können einen diese Storys runterziehen. Das grausame Grenzregime, die eifrigen Grenzer und Kontrolleure, die perfide Technik… Desto neugieriger geht man in der älteren, größeren und sehr empfehlenswerten Dauerausstellung einem Geräusch auf den Grund, das aus dem Nachbarraum zu hören ist. Jubelrufe, Hupen…richtig: Dort sieht man auf einer großen Leinwand Aufnahmen, die an der Fast-nicht-mehr-Grenze bei Helmstedt am 10. November 1989 entstanden sind. Trabi-Kolonne, Fahnen, glückliche Gesichter. Diese Aufnahmen laufen dort in Endlosschleife.

Und das ist auch gut so.

Ab 15. Mai ist in der Gedenkstätte die Schau „Wüstungen“ über Höfe und Dörfer zu sehen, die der Grenzsicherung im Wege waren. Eine Gedenkstunde für die Opfer des Grenzregimes ist am 26. Mai in Hötensleben geplant. Näheres unter 03 94 06 / 9 20 90 oder im Netz unter www.erinnern.org.