Braunschweig. Ein Braunschweiger und ein Salzgitteraner Mediziner diskutieren über Wege aus der Corona-Pandemie. Diese Zukunftsaussichten haben die beiden.

Wie geht man um mit kritischen Corona-Ansätzen? Ein Vorschlag wäre: Man diskutiert – sofern es konstruktiv zugeht. In diesem Sinne haben wir die Debatte zwischen zwei Medizinern angeregt, die zum Teil verschiedene Ansichten zur Impfkampagne haben.

Professor Max Reinshagen ist als Chefarzt für Innere Medizin zugleich Leiter der Covid-Station des Klinikums Braunschweig. Er diskutiert mit Günther Meyer, der seit 25 Jahren als Lungenfacharzt in Salzgitter-Lebenstedt tätig ist und einige kritische Fragen zum Impfen stellt.

Günther Meyer: Bis zum Dezember hatten wir es mit der Delta-Variante zu tun. Die Erkrankungen waren oft schwer. Doch nun ist die Omikron-Variante zur vorherrschenden geworden. Darauf sollten wir reagieren – und umsteuern. Hilfreich ist der Blick nach Südafrika und nach Großbritannien. Es ist in Südafrika trotz Omikron-Welle nicht zu vermehrten Beatmungen in den Krankenhäusern gekommen. In Großbritannien scheint sich das fortzusetzen. Der Grund ist wohl, dass sich die Erkrankung nach Omikron-Infektion hauptsächlich in den oberen Atemwegen ausbreitet, wie Forschungen aus Hongkong nahelegen – und weniger in den tieferen Atemwegen.

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Günther Meyer, Lungenfacharzt in Salzgitter-Lebenstedt.
Günther Meyer, Lungenfacharzt in Salzgitter-Lebenstedt. © Privat

Für mich heißt das: Wir brauchen eine neue Impfstrategie. Was die Delta-Variante angeht, waren die Impfungen sinnvoll. Nun sind sie es nicht mehr – so generell, wie bei uns verfahren wird. Zum einen schützen sie nicht ausreichend vor einer Infektion. Zum anderen ist es ein schiefes Argument, dass Geimpfte und Geboosterte mit einem milden Verlauf rechnen könnten. Das können nämlich so gut wie alle. Wir sollten nicht weiter so viel impfen, zumal auch die Gefahr der Myokarditis (Herzmuskelentzündung) als mögliche Impfkomplikation nicht unterschätzt werden sollte. Offiziell ist dieses Risiko mit 1:10.000 angegeben, ich persönlich schätze es auf 1:1.000 ein. Und ich habe in meiner Praxis bereits sechs Patienten mit Myokarditis gehabt; ein 45-jähriger Mann ist später leider verstorben, nachdem er mit einer Herzrhythmusstörung zusammengebrochen war. Für viele Bevölkerungsgruppen sind Impfungen obsolet, wenn nicht sogar schädlich. Kinder und Jugendliche sollten meines Erachtens überhaupt nicht geimpft werden. Letzteres ist eine rein sozialpolitische Entscheidung gewesen, wie viele Kinderärzte betont haben. Um es ganz deutlich zu sagen: Kinder haben nie etwas gehabt von der Impfung. Auch das Deutsche Ärzteblatt ist Ende Dezember zu diesem Schluss gekommen…

Danke, das war ein wuchtiger Aufschlag, wenn ich das so sagen darf. Was meinen Sie, Herr Professor Reinshagen, zu dieser Kritik?

Max Reinshagen: Aus meiner Sicht ist nicht alles falsch, was der Kollege gesagt hat. Ich würde aber vieles anders bewerten. Es ist zum Glück wirklich so, dass eine Infektion mit der Omikron-Variante des Virus bei den meisten Patienten einen milden Verlauf nach sich zieht. Unser Problem ist jedoch die schiere Masse derer, die sich infizieren. In den USA gab es jetzt eine Million Infizierter an einem Tag, in Frankreich 300.000. Und auch eine relativ kleine Gruppe, die es halt doch mit schweren Verläufen zu tun hat, kann dann plötzlich eine problematische Größe annehmen. Das macht die Sache so unberechenbar. Wir, die wir uns circa drei, vier Wochen hinter der Welle der genannten anderen Länder befinden, wissen eben nicht, wie es genau in Deutschland ablaufen wird. Es kann gut sein, dass wir mit 300.000 bis 400.000 Infektionen am Tag rechnen müssen. In Großbritannien mussten etwa 0,5 Prozent der Infizierten im Krankenhaus behandelt werden. Und wir müssen sehr gut aufpassen, dass unsere Systeme nicht zu sehr belastet werden.

Professor Max Reinshagen, Chefarzt der Medizinischen Klinik I im Städtischen Klinikum Braunschweig.
Professor Max Reinshagen, Chefarzt der Medizinischen Klinik I im Städtischen Klinikum Braunschweig. © Dennis Schulte/Klinikum Braunschweig

Ja, wir haben zum Beispiel im Klinikum Braunschweig derzeit nicht besonders viele Covid-Patienten, es sind zwanzig. Wir wären in der Lage, rund hundert Patienten auf der Covid-Normalstation zu versorgen und dreißig auf der Intensivstation. Aber dann müssen wir andere Stationen zumachen, weil wir das Personal für die Covid-Station brauchen. Anders gesagt: Wenn die Zahl der Covid-Patienten hier um den Faktor drei oder vier ansteigen würde, wären im Klinikum praktisch nur noch Notfall-Therapien möglich, weil alle Schwestern und Intensivpfleger zu beschäftigt sind.

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Wenn eine Pflegekraft sich – im Schichtdienst – um vier Patienten kümmert, dann begreift man schnell, was ein rascher Anstieg für die Personalsituation bedeutet. Und das sind die Gefahren, die wir sehen. Der Kollege Meyer sagt: Es wird nicht so schlimm. Aber wir wissen es nicht genau. Oder nochmal anders formuliert: Wenn nur ein halbes Prozent oder ein Prozent der Omikron-Infizierten einen schweren Verlauf haben, stößt unser Gesundheitssystem an seine Grenzen. Deswegen bin ich dafür, dass die Booster-Impfungen weiter stattfinden, um die Gruppe derer, die es hart trifft, so klein wie möglich zu halten. Ganz besonders gilt das natürlich für die Menschen über fünfzig.

Und ein Wort noch zur Myocarditis: Das Problem trifft unter den mit dem Impfstoff von Biontech-Pfizer geimpften Menschen nur sehr, sehr wenige. Es hat etwas mehr Fälle unter den mit Moderna Geimpften gegeben. Deswegen bekommen Menschen unter dreißig Jahren in Deutschland diesen Impfstoff ja auch nicht mehr. Ansonsten ist es natürlich so, dass eine Corona-Infektion selbst ein deutlich erhöhtes Myocarditis-Risiko mit sich bringt, etwa um den Faktor vierzig höher als die Impfung. Auch dieses Problem muss man also schon richtig einordnen…

Herr Meyer hat eben gesagt, dass die Impfung und auch das Boostern vor der Infektion mit der Omikron-Variante nicht so richtig schützt. Was meinen Sie dazu, Herr Professor Reinshagen?

Max Reinshagen: Ja, diese Variante ist besonders infektiös. Wahrscheinlich werden auch viele Geimpfte infiziert. Es geht nicht in erster Linie darum, das zu verhindern. Aber die Booster-Impfung reduziert noch einmal die Wahrscheinlichkeit, dass es zu schweren Verläufen kommt – immerhin um siebzig bis achtzig Prozent. Noch einmal: Wir schauen in eine Glaskugel. Wir wissen nicht genau, ob das wirklich stimmt, dass fast alle Omikron-Infektionen so unproblematisch sind. Und wir können mit diesen Dingen nicht spielen. Ob man Kinder und Jugendliche boostert, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht so wichtig. Bei den über 50-Jährigen und allen mit Begleiterkrankungen ist es hingegen fundamental wichtig.

Günther Meyer: Ich finde vieles richtig und wichtig, was Herr Reinshagen sagt. Aber einige Punkte sehe ich etwas anders. Das Problem der massenhaft auftretenden Fälle werden wir haben, das sehe ich ein. Aber das werden wir auch unabhängig von der Boosterfrage haben – ganz zu schweigen von dem Risiko, dass sich die Leute beim Warten auf die Impfung anstecken oder auch in Testzentren. Und ich habe auch Zweifel, was die Verhinderung schwerer Verläufe durch die Impfungen angeht. In Südafrika ist es trotz geringer Impfquote nicht zu vielen schweren Verläufen gekommen. Das ist keine Glaskugel-Frage, das sind Fakten.

Max Reinshagen: Sehr geehrter Kollege, es ist mir zu diffus, wie Sie das sagen. Die Daten aus Südafrika sind noch gar nicht publiziert, das sind weitergegebene Erfahrungswerte. Hinzu kommt: Südafrika hat eine ganz andere Bevölkerungsstruktur, die Menschen dort sind im Schnitt viel jünger als wir. Und wahrscheinlich ist ein erheblicher Teil der Patienten im Vorfeld bereits erkrankt gewesen, ohne dass dies offiziell bekannt ist. Damit einher geht eine höhere Immunität. Da ist noch manches unklar. Wir können in diesen Fragen keine Wette eingehen. Die Pandemie ist nun mal kein Pokerspiel. Wie Sie, Herr Meyer, darüber denken, das erscheint mir zu risikoreich. Wir sind vielleicht zwei, drei Wochen vor der Welle. Wir sollten alles tun, um die Risikogruppen zu schützen.

Günther Meyer: Mit Blick auf die Risikogruppen stimme ich voll zu. Bei den anderen sehe ich das aber wie gesagt anders. Und die Daten aus Südafrika und aus Großbritannien liegen doch vor!

Max Reinshagen: Ja, ich kenne die Zahlen aus Großbritannien. Ich schaue sie mir jeden Tag an. Dort hat sich die Hospitalisierung, also die Zahl derer, die wegen Covid ins Krankenhaus mussten, vervierfacht. Das sind weniger als bei den Wellen davor, das stimmt, diese Zahlen sind nicht steil nach oben geschossen. Aber ich bleibe dabei: Das Risiko ist real. Und deshalb sollten sich alle über fünfzig sobald wie möglich boostern lassen. Das sind in Niedersachsen derzeit etwa vierzig Prozent, da ist noch viel Luft nach oben.

Eine Frage noch an Sie, Herr Meyer: Sie machen keinen Hehl aus Ihrer Kritik an der Impfkampagne. Wie viele Mediziner, schätzen Sie, sind ähnlich kritisch?

Günther Meyer: Das ist schwer zu sagen. Ich schätze, gut achtzig Prozent der niedergelassenen Ärzte sehen das ganz anders als ich – und vielleicht zwanzig Prozent so ähnlich. Und bezüglich der Impfpflicht tippe ich auf ein Meinungsbild à la fünfzig-fünfzig. Aber wie gesagt: Das sind nur subjektive Einschätzungen.

Herr Reinshagen, einmal muss das Wort „Glaskugel“ noch herhalten. Die Hoffnung, dass die Omikron-Infektionen trotz allem auch eine Art Ausstieg aus der Pandemie darstellen könnten, ist für viele Menschen sehr aufregend. Wie sehen Sie das?

Max Reinshagen: Ich bleibe zunächst bei der Zahl 300.000. Nehmen wir also einmal an, wir haben über zwei, drei Wochen hinweg 300.000 Infektionen pro Tag. Dann würde die Immunität schon beachtlich ansteigen. Der Pool derer, die danach noch infiziert werden können, würde erheblich kleiner – das ginge in Richtung „Herdenimmunität“. Dann könnte die Pandemie irgendwann zusammenbrechen. Ob die Omikron-Welle das bewirkt? Ganz genau weiß das keiner. Aber vermuten tun das viele. Das ist die Chance, die wir haben.

Günther Meyer: Ich könnte mir sogar vorstellen, dass fünfzig Prozent unserer Bevölkerung jetzt mit dem Omikron-Virus in Kontakt kommen – ob symptomatisch oder nicht. Dann wird die Immunitätslage besser, dann werden die Ausschläge kleiner, das hoffe ich auch. Wir werden lernen, mit dem Virus zu leben.

Max Reinshagen: Vielleicht wird es so sein, wie wir das bei der Grippeimpfung erleben – einmal oder zweimal im Jahr werden sich diejenigen, die ein Risiko haben, womöglich vorsorglich impfen lassen. Das wird uns jahrelang begleiten, schätze ich. Jetzt aber gilt: Wir müssen aufpassen. Mir ist schon aufgefallen, wie sich die Beiträge von Karl Lauterbach verändert haben, seit er Gesundheitsminister ist. Wer die Verantwortung hat, kann sich nicht leisten, fahrlässig zu sein.

Herzlichen Dank für das Gespräch!