Braunschweig. Antisemitismus lässt sich nicht mit KZ-Besuchen bekämpfen, sagt Arye Shalicar. Es brauche schon früh gute Begegnungen.

Als Jugendlicher fürchtete Arye Shalicar auf den Straßen des Berliner Weddings um sein Leben – weil er Jude ist. Erst als er selbst Clanmitglied wurde, konnte er sich gegen die Angriffe, die nicht von rechts sondern von muslimischen Mitbürgern kamen, behaupten. Dass er in dieser Parallelgesellschaft nicht umgekommen oder ins Gefängnis gekommen ist, habe er einem Freund zu verdanken, der ihn nicht zu einem Raubüberfall mitnahm und darauf beharrte: ‘Aus Dir wird mal was’. Mit der Organisation Elnet, die sich für die Stärkung der deutsch-israelischen Beziehungen einsetzt, war Shalicar in Deutschland unterwegs. Über den Dächern Braunschweigs sprachen wir mit ihm über tagtägliche Gewalt, Vergebung und Wörter, die der Duden nicht führen sollte.

Bei einem Vortrag im Haus der Wissenschaft haben Sie kürzlich gesagt, dass Sie vor 20 Jahren entweder vor dem Tod oder dem Knast standen. Wie haben Sie sich denn da hinein geritten?

Ja, meine Zukunft hieß Knast oder Tod. Ich war damals im Berliner Stadtteil Wedding der einzige Jude unter sehr vielen Türken, Libanesen, Palästinensern und Kurden. Ich hatte meine Probleme, dort zurecht zu kommen und musste mir eine Überlebensstrategie überlegen. Und die hieß, mich zu integrieren, als deutsch-iranischer Jude aber nicht in Deutschland, sondern in eine Parallelgesellschaft.

Wie kam es dazu?

Mit 13 Jahren bin ich von Berlin Spandau in den Wedding gezogen, einen Stadtteil mit einem hohen Migrationsanteil. Mein neues Umfeld war muslimisch geprägt und ich hatte viele Feinde, weil ich Jude bin. Mir war damals nicht bewusst, was ich mir damit antue, als ich gesagt habe, dass ich Jude bin. Dabei hatte ich mit der jüdischen Identität nichts am Hut.

Was ist passiert, als Sie das gesagt haben?

Sehr viele in meinem Umfeld haben mir den Rücken gekehrt, das war aber noch das Beste, was mir passiert ist. Einige Türkischstämmige und viele Arabischstämmige wollten nach ihren Worten keinen Juden auf ihren Straßen sehen. Das war eine problematische Zeit, in der ich Angst um mein Leben hatte. Es gab sehr viel Aggression, Gewalt, Kriminalität. Als 13- und 14-Jähriger habe ich nicht verstanden, was sie von mir wollen. Und es waren viele, es waren Gruppen und sie waren gewaltbereit und bewaffnet.

Und dann irgendwann kam das Unerwartete, ein Wendepunkt. Es gab einen Libanesen, den ich in einem Döner-Laden kennen gelernt habe. Er mochte mich. Ich sagte zu ihm, dass er nicht mit mir befreundet sein will. Als er fragte, warum, sagte ich, dass mich in der Gegend viele nicht leiden können, weil ich Jude bin. Er sagte, dass er damit kein Problem habe und von dem Tag an musste ich keine Angst mehr haben.

Warum?

Er war Mitglied eines libanesischen Clans. Er war ein großer starker Mann, wie ein Schutzschild für mich. Plötzlich bin ich nicht mehr durch die Straßen der anderen gelaufen, sondern an seiner Seite durch seine Straßen.

Sie haben endlich Anschluss und Anerkennung gefunden, sind dadurch aber abgerutscht.

Genau, mitgehangen, mitgefangen. Ich wurde Gangmitglied, bin kriminell geworden. Mein ganzes Leben drehte sich nur noch darum. Damals war ich 17 oder 18 Jahre alt.

Das ist eine lange Durststrecke von fünf Jahren seit Sie in den Wedding gezogen waren. Wie haben Sie sich in der Zwischenzeit über Wasser gehalten?

Ich hatte das Glück, dass ich eine Freundin hatte. Sie war Kroatin. Ich hatte auch einige türkischstämmige Kumpels und einen Freund, der biodeutsch war. Dank diesem Freund bin ich nicht bei einem Raubüberfall mitgelaufen, den er organisiert hat. Als ich mitwollte, hat er gesagt: ‚Nein, Du kommst nicht mit. Du bist nicht wie wir, aus Dir wird mal was.‘ Wenn Du das von Deinen besten Kumpels im Alter von 16 oder 17 Jahren hörst, die alle im Sumpf leben, die keinen starken familiären Background haben, kein Geld, keine Schule, dann beginnst Du nachzudenken. Warum glauben die, dass aus mir eines Tages etwas werden könnte?

Hat Sie das bewegt, einen anderen Weg einzuschlagen?

Ja, aber es hat noch ein wenig gedauert, bis ich da raus bin. Nach der Schule bin ich zur Bundeswehr gegangen und habe dann in Berlin studiert. 2001 bin ich ausgewandert und habe die letzten 20 Jahre in Israel gelebt.

Sie sagten, dass Sie mit der jüdischen Identität nichts am Hut hatten. Warum ausgerechnet Israel?

Das stimmt, meine Eltern haben das Judentum nicht gelebt, ich bin komplett säkular aufgewachsen. Aber die Sache ist, dass ich als 13-Jähriger nicht nur als scheiß Jude beschimpft wurde, sondern auch als scheiß Israeli. Und wenn man jahrelang von seinem Umfeld in Schubladen gesteckt wird, kann man irgendwann nicht mal mehr atmen. Man ist so genervt davon, dass die Leute dir sagen, wer du bist. Irgendwann habe ich mich mit diesem Opfersein identifiziert und ich habe mich mit Israel und dem Jüdischsein beschäftigt.

Nach wie vor bin ich kein religiöser Mensch, aber ich habe mich auf Identitätssuche begeben. Zu dieser Suche gehörte auch ein halbes Jahr in einem Kibbuz in Israel. Dort habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben frei gefühlt. Ich bin dann nach Paris gezogen, später zu meiner Tante nach Los Angeles und Anfang 2001 habe ich mich dann endgültig für Israel entschieden. Dort bin ich glücklich. Ich komme aber auch oft nach Deutschland.

Haben Sie mal darüber nachgedacht, wieder nach Deutschland zu ziehen?

Alleine mit meiner Frau, die aus Nürnberg kommt, eventuell ja. Mit unseren zwei Kindern aber nein. Ich sehe meine Kinder in Israel alleine gemütlich zur Schule laufen. Das würde es in Deutschland für sie leider nicht geben. Wenn man in eine jüdische Schule in Deutschland geht, muss man zuerst eine Polizeikontrolle passieren und dann durch den Sicherheitsdienst der Schule.

Das diesjährige Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland müsste eigentlich 1700 Jahre jüdisches Überleben heißen. Und das in einem Land, in dem Juden, nach allem was passiert ist, zu hundert Prozent frei leben können sollten. Dass man sich hier bedroht fühlt, ist absurd. Genauso absurd wie die Antworten auf zwei Fragen, die ich gerne bei Vorträgen in Schulen stelle. Die erste lautet: Wer kennt einen Juden? In 90 Prozent der Fälle kennt niemand einen Juden. Auf die zweite Frage, ob jemand das Wort Jude schon einmal in einem negativen Kontext gehört hat, antwortet 90 Prozent mit ja. Das ist die deutsche Realität.

Und es ist wichtig dagegen anzugehen. Wenn die Leute nicht genug Einsatz gegen Antisemitismus zeigen, dann übernimmt der Mob. Und dann kann es sehr schnell sehr, sehr düster werden.

Sie selbst haben Antisemitismus in den Neunzigerjahren nicht von rechts, sondern von muslimischen Mitbürgern erfahren. Wie schätzen Sie die derzeitige Situation nach der Zuwanderung nach 2015 ein?

Migranten bringen einen anderen Antisemitismus mit und das ist kein neues Phänomen. Wer heute behauptet, dass Angela Merkel 2015 die Tore geöffnet hat und alle Antisemiten hier reingelassen hat, ist ein dummer Rechtspopulist. Ich musste leider schon in den Neunzigern um mein Leben rennen. Ich hatte aber auch muslimische Freunde, die mich gemocht und verteidigt haben.

Ich würde heute immer noch nicht mit einem Davidstern-Anhänger über die Straßen im Wedding laufen. Da würde ich keine Sprüche kassieren, sondern körperliche Angriffe. Wer von den muslimischen Kids antisemitisch ist und gewaltbereit, der hat das schon mit der Muttermilch eingesogen und dem wurde es mit dem Schlagstock des Vaters noch einmal eingeprügelt.

Wie kann man diese Menschen erreichen und dazu bewegen, einen anderen Weg zu gehen?

In den Kulturkreisen vieler Migranten spielen Respekt, Stolz und Würde ganz zentrale Rollen. Und da setzt Deutschland nichts entgegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Deutschland die eigene Identität fast schon verloren. Wer die deutsche Flagge zeigte, war gleich ein Nazi.

Die Alternative zur Kultur des Ursprungslands ist zu schwach?

Ja, sie zieht nicht. Aber wenn man die Menschen aus anderen Ländern einlädt, hierher zu kommen, aus welchen Gründen auch immer, dann sollte man nicht nur einfordern, dass sie die deutsche Sprache lernen. Man sollte auch einfordern, dass sie die Werte dieser Gesellschaft achten.

Ein Wert ist die Erinnerungskultur. Viele Migranten sagen: Mit dem Holocaust haben wir nichts am Hut, das juckt uns nicht. Die Konfrontation mit diesem Teil der Geschichte ist das eine. Aber da darf die Auseinandersetzung mit dem Judentum nicht enden. Denn wenn ich jetzt als 16-Jähriger, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, nach Auschwitz gehe, dann sehe ich tote Juden. Das ist ein Horrorfilm. Wenn ich danach einem Juden über den Weg laufe, dann ist das eine unentspannte Situation. Wie kann ein Jugendlicher diese Bilder verarbeiten? Ich war als Erwachsener in Yad Vashem, Horror, ich konnte tagelang nicht schlafen. Solchen Erlebnissen müssen positive Erfahrungen folgen.

Um die Juden auch aus der Opferrolle zu holen.

Ja genau, und das macht man, indem man Juden in Israel heute kennen und lieben lernt. Wenn die Jugendlichen nach einem Besuch in Auschwitz nach Israel kommen, sie im Meer schwimmen können, gut essen, dann haben sie nicht mehr nur die Horrorfotos von damals im Kopf sondern ein positives Bild von den Juden.

Aber es geht nicht nur um den Holocaust. Antisemitismus in Deutschland ist heute in erster Linie auf Israel bezogen. Und da sind auch die Medien sehr gefragt: Wie berichten sie über den Nahostkonflikt?

Ist das denn nicht eher eine Kritik von Mitbürgern, die aus Staaten stammen, die mit Israel Probleme haben?

Nicht nur. Wenn man den deutschen Duden aufschlägt, findet man das Wort israelkritisch. Das ist kein Migranten-Duden, das ist ein deutscher Duden. Es gibt kein deutschlandkritisch oder norwegenkritisch. Ich will niemandem verbieten, Israel zu kritisieren. Aber doch bitte nicht aus dem Grund, dass Israel Israel ist.

Wie war es für Sie, als sie 2001 nach Israel auswanderten. Haben Sie sich sofort zu Hause gefühlt?

Ich musste jahrelang an mir arbeiten, damit ich in dem neuen Umfeld zurechtkomme und daran, dass überhaupt etwas aus mir was wird. In der siebten Klasse bin ich sitzen geblieben, in der elften Klasse bin ich von der Schule geflogen, mit Ach und Krach habe ich dann das Abitur geschafft. Und am Ende habe ich einen Master-Abschluss an der Hebräischen Universität mit Auszeichnung geschafft.

Ich glaube, dass viele der gewaltbereiten Jugendlichen hoffnungslos sind, dass sie keine Perspektive haben, frustriert sind. Frust wird zu Hass und Hass führt zu Gewalt. Ich habe diese Gewalt tagtäglich gesehen und mitbekommen. 20 Jahre später blicke ich zurück und versuche zu vergeben. Man kann nicht sein ganzes Leben lang hassen.

Sie haben in Deutschland gelitten. Wie blicken Sie heute auf das Land?

Das Land ist für mich mit sehr viel Leid und sehr viel Kummer verbunden. Ich bin mit Frust weggegangen und habe Deutschland gehasst. Aber ich habe in den vergangenen 20 Jahren sehr an mir gearbeitet. Ich selbst habe sehr viel Deutsches in mir. Bestimmte deutsche Tugenden wie Pünktlichkeit zum Beispiel sind mir sehr wichtig. Die bringe ich auch meinen Kindern bei, so wie ich auch deutsch mit ihnen spreche. Obwohl ich meine Heimat in Israel gefunden habe, kann ich heute sagen, dass auch Deutschland meine Heimat ist.

Zur Person

Arye Sharuz Shalicar ist ein deutsch-persisch-israelischer Politologe und Schriftsteller. Seit Anfang 2017 ist er als Abteilungsleiter für Internationale Beziehungen in der israelischen Regierung tätig und schreibt Kolumnen für mehrere Zeitungen, unter anderem Die Welt. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt bei Tel Aviv.

Geboren wurde Shalicar 1977 in Göttingen, früh zog er mit seinen Eltern, die aus dem Iran stammen, nach Berlin. Dort gründete er als Jugendlicher die Graffiti-Gang Berlin Crime.Nach dem Abitur machte er seine Grundausbildung bei der Bundeswehr, 2001 wanderte er nach Israel aus und studierte Internationale Beziehungen, Nahostgeschichte und Politik an der Hebräischen Universität Jerusalem. Nach dem Abschluss 2009 diente er als offizieller Sprecher der israelischen Verteidigungsstreitkräfte und bekleidete zuletzt den Majors-Rang.

Shalicar veröffentlichte 2010 sein Buch „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“, das verfilmt wurde. Im September 2021 kam „Ein nasser Hund“ ins Kino. 2018 veröffentlichte Shalicar „Der neu-deutsche Antisemit – Gehören Juden heute zu Deutschland?“. Kürzlich erschien sein Buch „100 Weisheiten, um das Leben zu meistern. Selbst wenn du aus dem Ghetto stammst”.