Braunschweig. Mein Körper, meine Entscheidung? Der Braunschweiger Arzt Wilhelm Hallermann spricht über Wahrnehmungsverzerrung und Wissenschaftsfeindlichkeit.

Was ist los in unserem Land? Wie lässt sich Impfskepsis erklären, wie überwinden? Das Thema ist groß und komplex. Heute soll zu diesen Fragen Dr. Wilhelm Hallermann zu Wort kommen. Ein erfahrener Mediziner, 71 Jahre alt, ein „bekennender Schulmediziner“, wie er sagt, der lange als Neurologe und Psychiater in Wolfsburg und Braunschweig gearbeitet hat. Heute ist er „halb im Ruhestand“, unter anderem hilft er gelegentlich in einer großen Impf-Schwerpunktpraxis aus. Dort wie anderswo hat er viele Gespräche geführt, auch und gerade mit (ehemals) impfskeptisch eingestellten Menschen. Das Gespräch findet in Hallermanns Haus im Braunschweiger Norden statt.

Ich würde gern mit Ihnen über die Haltungen sprechen, welche so erstaunlich viele Menschen trotz der tausend Aufrufe und trotz der knallharten Logik der Pandemie am Sinn der Impfungen zweifeln lassen. Mit welchen Begriffen kommt man dem Phänomen zumindest nahe?

Ein wichtiger Begriff in dem Zusammenhang ist Wahrnehmungsverzerrung. Die Unmenge an täglichen Informationen in Sachen Pandemie verlangt von uns Entscheidungen, was wir davon überhaupt an uns heranlassen. Wir filtern unbewusst diese Infos und entscheiden uns für Botschaften, die uns bestätigen. Wenn ich die Möglichkeit habe, aus einer Vielzahl scheinbar gleichrangiger Argumente diejenigen herauszupicken, die meinen Einstellungen entsprechen, dann entscheide ich mich für genau diese. Das bedeutet, dass Menschen, die Zweifel an der Impfung haben, im Internet haufenweise Schein-Argumente und wilde Theorien finden, die ihre verzerrte Wahrnehmung zu stützen scheinen. Diese Mechanismen sind in der ZDF-Dokumentation „Die Wahrheit über Desinformation“ von Charles Kriel sehr gut dargestellt worden.

Hier ließe sich die Frage einwerfen, ob Sie und ich das mit der Ansichten-Verstärkung beim Anschauen zum Beispiel dieser Dokumentation nicht genauso machen…

Ja, das lässt sich grundsätzlich nicht abstreiten. Es geht aber letztlich nicht um Ansichten, sondern um wissenschaftliche Fakten, wie sie uns von Beginn an sehr präzise zum Beispiel von Christian Drosten und ebenso von den Braunschweiger Corona-Forschern vermittelt wurden. Drosten hat übrigens sehr früh das Wort „Naturkatastrophe“ für die Pandemie verwendet, was man richtig verstehen muss, nämlich als globale Naturkatastrophe – das heißt: Letztlich betrifft es uns alle. Aber anders als etwa ein Vulkanausbruch blieb die Pandemie zunächst scheinbar unsichtbar, weil anfangs nur wenige direkt betroffen waren. Das hat sich mittlerweile geändert. Ich habe indessen mit Menschen gesprochen, bei denen die anfängliche Impfskepsis gewichen ist, weil sie plötzlich im eigenen Umfeld erlebt haben, welche Folgen eine Corona-Infektion haben kann.

Gerade in Deutschland, Österreich und der Schweiz ist die Impfskepsis stark ausgeprägt. Welche Gründe lassen sich dafür anführen?

Da ist vieles noch unklar. Vielleicht verbindet sich hier eine Tendenz zur Wissenschaftsfeindlichkeit mit einer in diesen Ländern mehr als anderswo verbreiteten anthroposophisch-esoterischen Grundströmung. Womöglich spielen auch linksalternative Traditionen der 68er Bewegung eine Rolle. In diesen Milieus haben an sich positiv besetzte Begriffe wie „Selbstoptimierung“, „Achtsamkeit“, „Autonomie“ und „Körpersouveränität“ einen hohen Stellenwert. Sie werden aber im Kontext der Impf-Debatte geradezu kämpferisch gegen jede Art von Bevormundung eingesetzt, nach dem Motto: Keiner sagt mir, was ich mit meinem Körper zu machen habe. Erst recht kein Staat! Für mich ist sehr irritierend, wie hier aus egoistischen Motiven wissenschaftliche Fakten in Frage gestellt werden und der Blick aufs Ganze verloren geht. Ich habe auch mit Leuten diskutiert, die sich gut in der anthroposophischen Szene auskennen – Naturbewusstsein, Homöopathie, Rudolf Steiners Erbe. Derlei ist für einige Menschen als moralisches Gerüst sehr wertvoll. Wenn sie aber jetzt mit – auch moralischen – Impf-Appellen konfrontiert werden, geraten sie in ein Dilemma. Es könnte sein, dass eine allgemeine Impfpflicht hier einen Unterschied machen kann. Viele sagen vielleicht: Ich finde es zwar eigentlich nicht gut, aber ich muss ja jetzt… Der Widerstand aus der militanten Ecke ist damit zwar nicht gebrochen. Aber immerhin!

Welche anderen Impfskeptiker-Gruppen sind Ihnen begegnet?

Eine Gruppe dürfen wir nicht vernachlässigen – diejenigen, die eigentlich denken: Mich interessiert das alles nicht, ich habe damit nichts zu tun. Das sind Menschen, an denen die ganzen Diskussionen und auch die medialen Debatten irgendwie vorbeilaufen. Aber auch diese Menschen, zum Großteil junge Leute, kommen jetzt in die Praxis zum Impfen, was ja gut ist. Da wird zum Teil unumwunden zugegeben, dass man nicht durch irgendein inhaltliches Argument überzeugt worden ist, sondern man möchte den Einschränkungen für Ungeimpfte entgehen. Diese Haltung mag man schwierig finden. Wichtig ist allein das Ergebnis, nämlich die Impfung! Im Übrigen könnte die Einführung einer Impfpflicht auch in dieser Gruppe etwas bewirken. Eine wieder andere Gruppe sind wohl diejenigen, deren Impfverweigerung politisch eingefärbt ist, sowohl von links wie von rechts außen. Sie glauben zum Beispiel dass „Big Pharma“ das Corona-Drama nur erfunden hat, um Geschäfte zu machen. Hier haben wir es mit Menschen zu tun, die argumentativ nicht mehr erreichbar sind. Welche wirkmächtige Rolle das Internet dabei spielt, zeigt eine Studie aus den USA, wo man herausgefunden hat, dass die große Mehrheit der unzähligen Social-Media-Beiträge mit solchen abwegigen Botschaften von einer ganz kleinen Personengruppe stammt, die damit enorme Reichweiten im Netz erzielt und so das große Geld einstreicht.

Oft hört man auch: Das ist alles so widersprüchlich in den Medien, jeder sagt was anderes. Diese Kritik muss man schon ernst nehmen – Stichwort Informationschaos. Obwohl es erstaunlich ist, denn es gibt ja überhaupt keinen grundsätzlichen Experten-Dissens. Dennoch brauchen offenbar noch viele Menschen detaillierte Erklärungen zu den Fragen rund um die Impfung.

Wie verhalten Sie sich selbst in heiklen Gesprächen zum Thema?

Manchmal fällt es schwer, besonnen zu bleiben. Wir haben derzeit pro Tag mehrere hundert Tote zu be-klagen und schrammen gerade noch so an der Belastungsgrenze unserer Intensivmedizin entlang. Das könnte bei einer höheren Impfquote längst anders sein. Aber bloße moralische Appelle oder gar Schuldvorwürfe nutzen nicht, sie sind kontraproduktiv, wenn man Zweifler überzeugen will.

Was ich stattdessen sage, ist etwa dies: Es gibt keine Medikamente, die so intensiv erforscht und überwacht werden wie Impfstoffe. Auch diese Argumente sind manchmal hilfreich: Impfstoffe trainieren das Immunsystem, sie schädigen es nicht. Es gibt kurzfristige Nebenwirkungen, äußerst selten auch schwerwiegende. Aber es gibt keine Spätfolgen, die erst nach Jahren auftreten. All das muss man natürlich sorgfältig begründen, um Ängste und Vorbehalte zu nehmen. Oft sage ich auch einfach: Es gibt da draußen Tausende von Virologen, Epidemiologen und Impfexperten auf der ganzen Welt, die nichts anderes tun, als dieses Virus und seine Gefahren zu erforschen und sich darüber auszutauschen. Und deren Botschaft ist einhellig: lasst euch impfen! Wir sollten darauf vertrauen.