Braunschweig. Die aktuellen Inzidenz-Rekorde überraschen die Braunschweiger Epidemiologin Berit Lange nicht. Ungeimpfte sieht sie vor einem „riskanten Winter“.

An der Schwelle zum zweiten Corona-Winter hat die vierte Welle der Pandemie Deutschland erreicht. Inzidenz-Rekorde, Impfdurchbrüche, Booster-Empfehlungen: Vor diesem Hintergrund sprachen wir mit der Braunschweiger Epidemiologin Berit Lange über ihre Einschätzung der Lage.

Wir erleben diese Woche täglich neue Höchstwerte bei der bundesweiten Sieben-Tage-Inzidenz. Die Impfquote der Deutschen liegt laut RKI derzeit bei 67,3 Prozent. Auch wenn der Anteil der Geimpften zu wünschen übrig lässt, ist es nicht trotzdem überraschend, dass die Zahl der Neuansteckungen jetzt sogar die des Vorjahreswinters übersteigt?

Nein, das kommt überhaupt nicht unerwartet. Es war seit Monaten bekannt, dass diese Situation auf uns zukommen würde, wenn sich nicht mehr Leute impfen lassen. Entsprechende Modellierungen liegen bereits seit Juli vor – etwa vom RKI. Auf den Tag genau war die jetzige Entwicklung nicht vorherzusehen, im großen Ganzen aber schon.

Vom Begriff der Herdenimmunität ist derzeit bemerkenswert wenig die Rede. Warum wirkt es sich offenbar so wenig aus, dass immerhin zwei von drei Menschen in Deutschland geimpft sind?

Es ist ja nicht so, dass die Impfungen nicht helfen. Wir sehen durchaus Effekte auf Bevölkerungsebene. Im Verhältnis zur Zahl der Infizierten erkranken heute deutlich weniger Menschen schwer an Covid-19. Außerdem wird die Übertragung der Krankheit durch die Impfungen erheblich verlangsamt. Diesen erfreulichen Effekten stehen aber die neuen Virusvarianten gegenüber, die deutlich ansteckender sind als die im letzten Winter. Die Delta-Variante ist mehr als doppelt so infektiös wie das ursprüngliche Virus.

Die Vorstellung der Herdenimmunität als einer Brandmauer gegen das Virus war also etwas naiv?

Nein, aber man muss das Thema differenziert betrachten. Die Herdenimmunität ist ja in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich stark ausgeprägt. Wenn ich mir zum Beispiel die Gruppe der Schülerinnen und Schüler anschaue, die gegenüber dem Rest der Bevölkerung noch deutlich weniger geimpft sind, sich aber untereinander viel treffen, dann ist klar, dass sich das Virus dort auch relativ stark ausbreitet. Dementsprechend ist in solchen Bevölkerungsgruppen der positive Effekt der Impfquote weniger zu spüren. Dennoch: Auch an den Schulen sehen wir eine verlangsamte Dynamik der Ansteckungen – dank der Impfungen in anderen Teilen der Bevölkerung.

Vor einem Jahr hätten wir Sieben-Tage-Inzidenzen, wie wir sie gerade erleben, als wahnsinnig hoch empfunden. Wie hat sich die Aussagekraft dieses Werts gegenüber letztem Jahr, als wir noch keine Impfung hatten, verändert?

Es ist ein klein wenig schwieriger geworden, diesen Wert zu interpretieren – eben, weil man die Fragen stellen muss: Wer ist geimpft oder genesen, wer nicht? Aber auch wenn im Verhältnis zur Inzidenz heute weniger Menschen mit Covid-19 auf einer Intensivstation versorgt werden müssen oder an Corona sterben, besteht der Zusammenhang mit der Inzidenz weiter fort – wenn auch mit einem geringeren Faktor. Und noch etwas gilt nach wie vor: Der Inzidenzwert gibt immer noch frühzeitig Aufschluss über die Dynamik des Infektionsgeschehens. Mit ihm lässt sich die Belegung der Intensivstationen und die voraussichtlichen Todesfälle der nächsten ein bis drei Wochen mit einiger Genauigkeit vorhersagen. Ich möchte mich nicht auf eine Woche festlegen, aber wir sehen ja jetzt bereits, was in kurzer Zeit passieren wird – nämlich, dass wir bei den Intensivbetten in vielen Teilen in Deutschland an unsere Grenze stoßen. In einigen Regionen ist das ja bereits der Fall. Und das passiert umso schneller, da die Kapazitäten der deutschen Intensivstationen geringer sind als im Vorjahr, weil weniger Personal zur Verfügung steht.

Seit 2019 betreut die Medizinerin Dr. Berit Lange die Forschung zur klinischen Epidemiologie am Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI).
Seit 2019 betreut die Medizinerin Dr. Berit Lange die Forschung zur klinischen Epidemiologie am Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI). © HZI | HZI

Laut dem Divi-Intensivregister, das Auskunft über die Belegung der Intensivstationen in Deutschland gibt, ist momentan etwa jedes siebte Intensivbett mit Corona-Patienten belegt. Das klingt erstmal nicht nach viel.

Ja, aber das täuscht. Zum einen ist die Lage regional sehr unterschiedlich. Mancherorts – in Teilen Bayerns, Sachsens und Thüringens – belegen Coronapatienten bereits 50 Prozent und mehr der Intensivbetten. Zum anderen ist auch jeder siebte schon ein ungemein hoher Anteil. Wer schon einmal auf einer Intensivstation tätig war, kann das einschätzen. Nur in sehr schweren Grippewellen kommt es mal vor, dass von den zehn bis 20 Betten, die es dort normalerweise gibt, mehrere von Patienten mit der gleichen Infektionskrankheit belegt sind. Das entscheidende ist: Diese Betten stehen nicht mehr für andere Patienten zur Verfügung, die diese dringend benötigen. Die Intensivstationen sind für eine solche Zahl Infektionspatienten nicht gewappnet.

Angesichts zahlreicher Impfdurchbrüche, über die berichtet wird, ist kaum noch die Rede von einer „Pandemie der Ungeimpften“. Gilt diese Formel trotzdem noch?

Ja. Das individuelle Risiko, wenn man ungeimpft in diesen Winter startet, ist ungemein hoch im Vergleich zu den Geimpften. Die Gefahr, sich zu infizieren, ist deutlich erhöht. Und wenn man sich infiziert, hat sie noch einmal ein deutlich erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf. Nun haben wir glücklicherweise einen bedeutenden Anteil Geimpfte. Und je mehr Menschen geimpft sind, umso wahrscheinlicher ist es, dass es Impfdurchbrüche gibt.

Manche dieser Fälle landen aber auch auf der Intensivstation.

Richtig. Das kommt vor. Insbesondere sehen wir das bei älteren Menschen. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen ist diese Gruppe als erste geimpft worden, weshalb die Schutzwirkung der Impfung bereits wieder nachlassen kann. Zum anderen ist diese Gruppe allgemein vulnerabler. Trotzdem: Der Anstieg von Personen, die mit Impfdurchbrüchen auf den Intensivstationen liegen, liegt am Ansteigen der Impfquote. Das war eine völlig erwartbare Entwicklung.

Viele nehmen es dennoch anders wahr. Der ehemalige US-Außenminister Colin Powell starb, obwohl er geimpft war, an Covid-19. Solch prominente Fälle lassen manchen an der Wirksamkeit der Impfung zweifeln.

Zu Unrecht. Auch wenn das individuelle Risiko eines Impfdurchbruchs gering ist, steigt natürlich mit zunehmender Impfquote auch die Zahl derer, die eine Infektion bekommen oder sogar ins Krankenhaus müssen. Damit steigt natürlich auch der Anteil dieser Gruppe an der Gesamtzahl der Infektionen oder Krankenhauspatienten. Das ist normal, und das RKI berichtet darüber ja regelmäßig. Colin Powell ist ein typisches Beispiel für das, was ich eben erklärt habe. Er war in einem entsprechenden Alter (84 Jahre, Anm. d. Red.) und bereits durch entsprechende Vorerkrankungen geschwächt. Die relativen Risikoreduktionen durch die Impfung beziehen sich ja auf die absoluten Risiken der Personen mit ihren individuellen Risikofaktoren. Umgekehrt muss man sich klarmachen: Keine Impfdurchbrüche gibt es nur dort, wo niemand geimpft ist.

„Jeder siebte Intensivpatient mit Corona – das ist ein ungemein hoher Anteil. Wer schon einmal auf einer Intensivstation tätig war, kann das einschätzen“, sagt die Medizinerin Berit Lange.
„Jeder siebte Intensivpatient mit Corona – das ist ein ungemein hoher Anteil. Wer schon einmal auf einer Intensivstation tätig war, kann das einschätzen“, sagt die Medizinerin Berit Lange. © dpa | Waltraud Grubitzsch

Das klingt vielleicht zunächst paradox...

...stimmt aber. Wenn umgekehrt 100 Prozent der Menschen geimpft wären, dann müssten auch 100 Prozent der Corona-Fälle auf den Intensivstationen Impfdurchbrüche sein. Das Entscheidende ist: Es wären dann absolut viel weniger Fälle als jetzt. Das muss man sich klar machen.

Wem empfehlen Sie jetzt, den Impfschutz mit einer Boosterspritze auffrischen zu lassen?

Boosterimpfungen sind jetzt sehr wichtig. Sie werden aber erst in einigen Wochen in größerem Umfang dazu beitragen, die aktuelle Welle zu brechen. Die älteren Menschen und solche mit Vorerkrankungen müssen auch beim Boostern wieder Priorität haben, weil sie bei Durchbruchsinfektionen das höchste Risiko haben. Und dann sollte man den Abstand zur ersten Impfung beachten. Immunologen raten von einer zu frühen Auffrischungsimpfung ab. Aber ob die erste Impfung nun fünfeinhalb, sechs oder sechseinhalb Monate her ist, darauf kommt es nicht an.

Ist es ratsam, vor einer Booster-Impfung per Antikörpertest zu überprüfen, ob vielleicht noch ein ausreichender Immunschutz vorhanden ist?

Das ist nicht Teil der Stiko-Empfehlung. Und außerdem würde es die Ärzte noch zusätzlich belasten. Dabei haben sie mit den Impfungen schon gut genug zu tun.

Die voraussichtlich künftige Koalition aus SPD, Grünen und FDP will die sogenannte „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ zum 25. November auslaufen lassen. Eine gute Idee?

Die Frage ist, was mit diesem Schritt einhergeht. Wir sehen gerade, dass wir in der vierten Welle sind. Angesichts der vielen Ungeimpften, die es auch in höheren Altersgruppen gibt, haben wir keinen Grund anzunehmen, dass diese vierte Welle weniger stark abläuft. Die Gefahr, dass das Gesundheitssystem überlastet wird, ist weiter real. Und um dieser Gefahr mit einheitlichen, nationalen Mitteln begegnen zu können, wurde die „epidemische Lage“ ja ausgerufen. Wenn wir jetzt etwas Anderes an ihre Stelle setzen, was anders heißt, aber ähnliche Regelungen erlaubt, dann sehe ich kein Problem. Mir kommt es nur darauf an, dass wir auch in den kommenden Monaten noch die rechtlichen Möglichkeiten haben, einheitliche Maßnahmen durchzusetzen, um Überlastungen zu vermeiden. Denn Überlastungen treffen am Ende alle. Wenn ein Herzinfarktpatient nicht behandelt werden kann, weil kein Bett mehr frei ist, dann ist es egal, ob er geimpft war oder nicht.

Reichen die geltenden Maßnahmen aus Ihrer Sicht aus, um mit der vierten Welle zurechtzukommen?

Entscheidend ist, dass die Regeln gelten und eingehalten werden. Um den gefährdeten Gruppen die Booster-Impfungen noch rechtzeitig zu ermöglichen, müssen wir auf die etablierten Maßnahmen zurückgreifen: Abstandsregeln, Teststrategien, Maskenpflicht – vor allem dort, wo viele Menschen sich begegnen. Außerdem muss es darum gehen, dass Ungeimpfte sich möglichst nicht so viel treffen – zu ihrem Schutz. Man darf aber auch nicht vergessen, dass einige Maßnahmen, etwa die Teststrategien, in den letzten Wochen und Monaten in vielen Bundesländern wieder abgeschafft worden sind. Diese Maßnahmen braucht es jetzt wieder.

Zuletzt gab es einen kräftigen Anstieg bei den Impfungen. In der vergangenen Woche sind in Niedersachsen 110.000 Menschen geimpft worden, in der Vorwoche waren es noch 70.000. Offenbar ringen sich jetzt doch noch viele Menschen zu einer Impfung durch.

Das wäre natürlich schön. Ich freue mich über jeden, der sich impfen lässt. Ein Stück weit ist das sicher auch den steigenden Infektionszahlen geschuldet. Möglicherweise hängt diese Entwicklung auch mit den zunehmenden Einschränkungen – Stichwort „2G“ – zusammen. Wichtig ist, dass man den Zugang zur Impfung möglichst niedrigschwellig und barrierefrei gestaltet. In Deutschland ist es ein ärztliches Privileg, impfen zu dürfen. Andere Länder machen das anders. Auf jeden Fall wäre es gut, die Impfungen noch näher an die Menschen heranzubringen. Das muss dann aber auch entsprechend kommuniziert werden. Ich kann mir vorstellen, dass es auch noch etwas bringt, wenn demnächst noch weitere Impfstoffe zugelassen werden. das könnte manche Unentschlossenen noch umstimmen.

Trotzdem wird es am Ende einen relevanten Anteil von Menschen geben, die sich gegen eine Impfung entscheiden.

Ja, und diese Menschen werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten Monaten und Jahren infizieren.

Das klingt nach einem individuellen Risiko, aber für den Rest erstmal nicht so dramatisch.

Ja, erstmal ist es ein individuelles Risiko, über das sich jeder, der sich nicht impfen lässt, im Klaren sein sollte. Das gesellschaftliche Risiko liegt aber zum einen in der Gefahr, dass Infektionen bei den Menschen, die sich nicht impfen lassen, zur Überlastung des Gesundheitssystems führen. Zum anderen können sie zu Durchbruchsinfektionen bei denjenigen führen, die aktuell trotz Impfung vulnerabel sind. Letztendlich liegt es jetzt also schon an gesellschaftlichen Maßnahmen, die Infektionsdynamik zu verlangsamen. Je besser uns das gelingt, desto geringer die Gefahr, das Gesundheitssystem zu überlasten.

Aber desto länger auch die Einschränkungen.

Eine Überlastung der Gesundheitssysteme ist aber auch keine realistische Alternative. Wie lang die Einschränkungen sein müssen und inwieweit es möglich ist, sie auf Ungeimpfte zu beschränken, hängt von mehreren Faktoren ab. Wir müssen die Impflücke schließen und bei den Boosterimpfungen vorankommen. Außerdem müssen die etablierten Maßnahmen wie Maskenpflichten und Teststrategien stringent durchgesetzt werden.

Strategiepapier zum bevorstehenden Winter:

Berit Lange ist Mitautorin des Strategiepapiers „Nachhaltige Strategien gegen die Covid-19-Pandemie in Deutschland im Winter 2021/2022“. Das vollständige Dokument finden Sie hier.