Braunschweig. Müllberge sind ein Problem, aber Keimfreiheit ist noch wichtiger. Ein Interview mit drei Experten aus dem Klinikum Braunschweig.

„Grünes Krankenhaus“, das klingt schön. Gesundheit und Nachhaltigkeit gehen Hand in Hand. Das wär’s doch, oder? Also alles klar, einfach machen? Nein, so einfach ist das nicht. Leider sind reihenweise bedenkenswerte Einschränkungen angebracht. Besonders deutlich zeigt sich beim Thema „Grünes Krankenhaus“, wie steinig in manchen Bereichen der Weg ist, mit Blick aufs Klimaproblem Emissionen und Müllaufkommen zu reduzieren – obwohl es nicht an gutem Willen fehlt.

Jörg Hochstein, Umweltschutz-Beauftragter am Klinikum Braunschweig
Jörg Hochstein, Umweltschutz-Beauftragter am Klinikum Braunschweig © Klinikum BS

Das Thema Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen ist ein schlafender Riese. Gigantische Müllberge entstehen im Zuge der Heilung von Krankheiten, der Linderung von Schmerzen, der Betreuung von Kranken. Laut Schätzungen ist der Gesundheitssektor für beinahe fünf Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich. Doch das Thema ist nicht nur groß, sondern auch vielschichtig. Deshalb soll es hier nicht in erster Linie um Emissionen, nicht um Arzneimittelproduktion, Medizingeräteproduktion und Krankentransport gehen, auch nicht darum, inwiefern in den Praxen niedergelassener Ärzte oder in Apotheken in Sachen Nachhaltigkeit Veränderungsbedarf besteht. Hier soll es ums Krankenhaus gehen. Wie „clean“ kann die Klinik sein, wie „grün“ das Krankenhaus? Immerhin entstehen dem „Ärzteblatt“ zufolge im durchschnittlichen deutschen Krankenhaus bis zu acht Tonnen Abfall – pro Tag! Auf den einzelnen Patienten umgerechnet sind das – ebenfalls täglich – mehrere Kilogramm. Tendenz: leicht steigend…

Wie das so ist mit solchen Problemen: Kaum einer bestreitet sie, aber leicht zu lösen sind sie auch nicht. Dass Kliniken Einwegprodukte aufgrund hygienischer Vorschriften nicht kurzerhand ersetzen können, ist einzusehen. Auch dass Gesundheit – hier im Sinne von Patientensicherheit – nichts ist, was man der Ökobilanz zuliebe plötzlich weniger wichtig findet, dürfte klar sein. Und doch gibt es Spielräume, und doch gibt es Diskussionsbedarf. Netterweise haben sich gleich drei Expertinnen bzw. Experten vom größten Krankenhaus der Region, dem Klinikum Braunschweig, bereitgefunden, unserer Zeitung über ihren jeweiligen Blickwinkel auf diese Fragen zu berichten. Zu Wort kommen im Folgenden Jörg Hochstein, Teamleiter Umweltschutz im Klinikum, Thomas Hanhus, Stationsleitung zweier operativer Intensivstationen, sowie Astrid Janßen, die für die Apotheke und den Einkauf der Medizinprodukte zuständig ist.

Astrid Janßen, Apothekerin am Klinikum Braunschweig.
Astrid Janßen, Apothekerin am Klinikum Braunschweig. © Klinikum Braunschweig

Sehr geehrter Herr Hochstein, das Klinikum Braunschweig ist riesig. Da können die Müllmengen auch nur riesig sein, oder?

Jörg Hochstein: Ja, das sind sie. Etwa 2000 Tonnen Abfall entstehen pro Jahr bei uns. Leider ist diese Zahl in den Vor-Corona-Jahren leicht angestiegen. Hierbei spielt vor allem der hygienische Aspekt eine Rolle, über den wir sicher noch sprechen werden. Der größte Posten sind Restabfälle, also das, was wir alle normalerweise der „schwarzen Tonne“ zurechnen und was in die „thermische Verwertung“ geht, als Ersatzbrennstoff zur Stromgewinnung. Darunter sind auch diverse Schlauchsysteme, zum Teil aus speziellen Gründen. So ließe sich das Plastik verschiedener Hersteller beim Recycling nicht trennen. Und der Verschluss-Clip am Schlauch besteht aus einer anderen Kunststoffsorte als der Schlauch selbst…

Thomas Hanhus: Die Dimensionen sind wirklich gewaltig. Wir nehmen rund 60.000 stationäre Patienten im Jahr auf – und etwa 200.000 werden pro Jahr ambulant behandelt. Das sind die Dimensionen einer eigenen Kleinstadt, das ist in unserer Region gar nicht allen bewusst. Bei uns entstehen 4,8 Kilogramm Müll pro Patient an einem Tag. Ich möchte unterstreichen, dass das ein Durchschnittswert ist. Jemand, der hier kurz behandelt wird, verursacht natürlich wesentlich weniger Müll als ein Mensch, der drei Wochen auf der Intensivstation liegt. Nehmen wir mal an, der letztgenannte wäre auch noch ein Dialyse-Patient: Ja, dann entsteht, salopp gesagt, wirklich jeden Tag ein ganzer Sack voll Müll.

Können Sie den Inhalt dieses Sackes etwas näher beschreiben?

Thomas Hanhus: Es sind in den vergangenen Jahren immer mehr Einmal-Produkte hinzugekommen. Früher gab es Schläuche, die gewaschen und wiederbenutzt wurden. Zum Beispiel mögliche Lungenentzündungen, die im Zuge von Beatmungen entstehen können, haben die Häuser davon abgebracht und solche Einmal-Systeme als Standard mit sich gebracht. Die Entscheidung für Einmal-Produkte ist oft im Sinne der Keimfreiheit und somit der Patientensicherheit gefallen. Doch auch wenn unsere Müllproduktion zum Teil unvermeidbar ist – gottgegeben ist sie auch nicht. Beispiel Verbandsmaterial: Ich muss, wenn ich mich mal verwickelt oder verklebt habe, nicht unbedingt eine zweite oder dritte Packung aufmachen. Stattdessen muss ich mir darüber im Klaren sein, dass ich durch konzentrierte Arbeit zur Müllvermeidung beitragen kann. Und ich bin sicher: Die Mitarbeiter, die ich kenne, die sind sich dessen bewusst.

Astrid Janßen: Viele Kunststoff-Produkte, die im Krankenhaus verwendet werden, lassen sich kaum oder gar nicht wiederaufbereiten. Jeder sieht das, der Kunststoff in die Spülmaschine stellt – der ist nachher noch feucht und bietet deshalb Keimen eine Wachstumsgrundlage. Die Aufbereitung wäre sehr aufwendig, mit viel Handarbeit verbunden. Bei „Centartikeln“ wie Spritzen und Kanülen wäre das angesichts der Mengen und der Kosten eine ganz besondere Herausforderung. Trotzdem: Wir achten beim Einkauf verstärkt auf den Aspekt Nachhaltigkeit. Neue Produkte werden von einer Kommission bewertet, die immer aufs Thema Mehrweg achtet, auch aus Kostengründen übrigens. So gibt es auch Mehrweg-Medizinprodukte, die mit Einweg-Produkten kombiniert werden, und dann wird das Teilstück, das direkt mit dem Patienten in Kontakt kam, entsorgt, während der Rest wiederaufbereitet werden kann. Zudem legen wir Wert darauf, dass wir Systeme haben, die in sich geschlossen sind. Da geht es nicht nur um Wiederverwertbarkeit, sondern auch um solche Fragen: Können die Systeme unter hygienischen Gesichtspunkten 24 oder 48 oder sogar 76 Stunden beim Patienten liegen? Es ist gut möglich, dass ein zunächst teureres Produkt auf diese Weise Müll vermeiden hilft und am Ende sogar günstiger ist. Dabei müssen die Angaben der Hersteller zu den Standzeiten selbstverständlich beachtet werden.

Herr Hanhus, besonders viel Müll entsteht im OP. Genau dort arbeiten Sie. Wie denken Sie darüber?

Thomas Hanhus: Gesundheit und Umweltschutz abzuwägen, ist grundsätzlich ein dickes Brett. Wir müssen natürlich auf die Hygiene achten – das ist wie erwähnt sehr wichtig –, das Thema berührt aber auch rechtliche Fragen: Wer übernimmt die Haftung, wenn etwas schiefgeht? Welchen Forderungen könnten wir uns unter Umständen gegenübersehen?

Trotzdem versuchen wir praktisch voranzukommen. Es geht um die Benutzungsdauer von medizinischen Artikeln, um die Geschlossenheit der Systeme, die Reduzierung des Verbrauchs.

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Können Sie „OP-Müll“ an einem einfachen Beispiel erklären?

Thomas Hanhus: Nehmen wir eine Blinddarm-OP. Hierbei kommt Besteck zum Einsatz, das übrigens mehrfach verwendet werden kann. Dafür gibt es hier einen zentralen Sterilisationsbereich mit speziell ausgebildeten Mitarbeitern, die die Instrumente einzeln sterilisieren und versiegeln. Natürlich entsteht auch hier wieder Müll, wenn das einzeln verpackt wird – was man tun muss, damit der Operateur sicher sein kann, dass er ein sterilisiertes Instrument in die Hand nimmt, mit dem er schneidet. Zweitens entsteht in dem Blinddarm-Beispiel Müll, weil der Patient mit verschiedenen Schlauchsystemen in verschiedenen Bereichen beatmet und medikamentös versorgt wird. Drittens bekommt der Patient Infusionen – ebenfalls aus Einmal-Präparaten. Und vielleicht gibt es zuletzt, ebenfalls intravenös, ein Antibiotikum, dann käme wieder ein neues System zum Einsatz. Dazu muss man wissen: Medikamente sind nicht zwangsläufig kompatibel, da könnten sich Kristalle bilden, was unbedingt verhindert werden muss, deshalb muss derlei getrennt werden. So setzt sich das fort, bis der am Blinddarm operierte Mensch dann also den besonders müllintensiven Bereich, die Intensivstation und den Aufwachraum, verlässt und wieder ein normaler Müllproduzent wird.

Ist das alles alternativlos? Oder wo lässt sich was verändern?

Astrid Janßen: Verbandsmaterial ist nur für den einmaligen Gebrauch zugelassen. Und zwar nicht nur eine Wundauflage, sondern auch so etwas wie eine Zugbinde. Die würde bei einer Wiederaufbereitung womöglich ihre Eigenschaften verändern. Diese Materialien werden nur zum Einmalgebrauch hergestellt, eine Wiederaufbereitung ist gesetzlich nicht erlaubt.

Thomas Hanhus: Als Anwender halte ich die eben geschilderte Müll-Produktion im OP und auf der Intensivstation für weitestgehend alternativlos. Ich erinnere mich an die Zeiten, als gläserne Spritzen ausgewaschen und Beatmungsschläuche gespült wurden. Als Auszubildender war es eine besonders unbeliebte Aufgabe, die gewaschenen Binden wieder aufzurollen. Aber das ist vorbei: Angesichts der Zahl und der Gefährlichkeit möglicherweise im Krankenhaus erworbener Infektionen – beides natürlich abhängig auch vom Alter der Patienten und der Anfälligkeit ihres Immunsystems – müssen wir so vorsichtig wie möglich sein. Manch ein diagnostisches Gerät hat sterile Überzüge, aber leider nicht alle. Es gibt Bronchoskope für einige hundert Euro. Natürlich tut einem das in der Seele weh, wenn man das nach einmaliger Benutzung wegschmeißen muss, aber häufig geht es nicht anders.

Relevant ist ja auch die Verpackungsfrage. Könnten Sie hier die Müllberge in Angriff nehmen?

Thomas Hanhus: Verpackungsgrößen spielen schon eine Rolle. Viele Dinge sind wirklich extrem verpackt. Sie haben aber auch weite Wege auf der Palette hinter sich. Manchmal fragen wir uns: Warum gibt es keine größeren Verpackungen? Doch hier stellt sich natürlich wieder die Frage nach der Lagerkapazität. Es gibt keine ganz einfachen Lösungen.

Weite Wege? Wo, Frau Janßen, wird das Gros der Produkte produziert, die Sie einkaufen – in Asien?

Astrid Janßen: Das meiste Einweg-Material kommt tatsächlich aus Asien. Spezielle Medizinprodukte kommen oft aus den USA. Aber auch Länder in Europa sind Produktionsstätten, etwa Irland für Stents. Viele Firmen sind global vertreten und haben in den Ländern spezialisierte Unternehmen aufgekauft, die Medizinprodukte herstellen. Dort wird dann produziert – und das Produkt weltweit verkauft.

Die Verkürzung der Transportwege ist also ein frommer Wunsch?

Astrid Janßen: Ich denke schon. Wir haben es ja im vorigen Jahr erlebt, als plötzlich alle feststellten, dass in Europa so gut wie keine Firma Mund-Nasenschutz hergestellt hat. Zu den in Asien üblichen Kosten ginge das hier auch gar nicht. Das gilt auch für Arzneimittel: In Europa werden kaum noch Wirkstoffe für Arzneimittel hergestellt.

Noch einmal zur Ausgangsfrage: An welcher Stelle könnte das Krankenhaus „grüner“ werden?

Jörg Hochstein: Wichtig ist, dass wir alles, was recycelbar ist, so gut trennen, dass wir es auch wirklich recyceln können. Auch Möbel zum Beispiel. Wir sind auf Firmen angewiesen, die mit den Mengen zurechtkommen, die bei uns wöchentlich anfallen. Da haben wir noch viel zu tun.

Thomas Hanhus: Als Klinikum Braunschweig werden wir im Zuge des Neubaus generell „grüner“ werden. Das bezieht sich auf die Herstellung unserer eigenen Produkte, auf Elektroautos, die zwischen den Standorten unterwegs sind und deren Strom wir hoffentlich dann selbst produzieren. Auf dem Dach des Parkhauses werden die Bienen summen, es gibt wirklich viele Projekte. Und nicht zuletzt ermöglicht die Digitalisierung viele Einsparungen. Früher wurde jeder Laborbefund ausgedruckt, das machen wir nicht mehr. Auf diese Weise sparen wir Tonnen an Papier. Auch niedergelassene Ärzte, die das können, sollten uns ihre Befunde digital zukommen lassen.

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