Braunschweig. Der Präsident der niedersächsischen Behörde warnt im Interview: Einzelne Mitglieder der Szene fallen durch latente Gewaltbereitschaft auf .

Seit Beginn der Pandemie versuchen Rechtsextremisten, Proteste gegen die Corona-Einschränkungen für ihre Zwecke zu nutzen. Auch in unserer Region gab es zuletzt immer wieder Kundgebungen, die von Rechtsextremisten organisiert wurden. Am kommenden Samstag wollen wieder Anhänger der Szene in Braunschweig demonstrieren. Bernhard Witthaut, Präsident des niedersächsischen Verfassungsschutzes, spricht im Interview über die Gefahren, die von der rechtsextremen Szene in unserer Region ausgeht und warum sich gerade hier die Partei „Die Rechte“ zum Sammelbecken für Neonazis entwickelt hat.

Herr Witthaut, die Corona-Pandemie scheint den Rechtsextremismus zu beflügeln. Auch in unserer Region haben sich immer wieder bekannte Neonazis und Anhänger rechtsextremer Organisationen unter Demonstranten gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung gemischt. Für wie gefährlich halten Sie diese Entwicklung?

In der Region Braunschweig beobachten wir seit einigen Jahren vermehrte Aktivitäten der rechtsextremistischen Szene. Durch die Corona-Pandemie hat dies eine neue Wende genommen. Rechtsextreme Gruppierungen und Akteure nutzen die Unzufriedenheit vieler Bürger mit den Einschränkungen wegen der Corona-Pandemie aus, um ihre Ideologie zu verbreiten. Bei den Protesten etwa der Querdenker-Bewegung geht es nicht nur gezielt gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung, es wird auch unsere Demokratie in Frage gestellt. Das spiegelt sich etwa in Parolen wie „Corona-Diktatur“ wider. Insgesamt ist das eine Besorgnis erregende Entwicklung, die wir sehr genau im Auge behalten.

Wie erfolgreich sind Rechtsextremisten in der Corona-Krise denn mit ihrem Versuch, sich an demokratische Proteste anzuschließen?

Wir beobachten, dass sich Rechtsextremisten oder Akteure, die wir der Szene zuordnen, bei verschiedenen Veranstaltungen versammeln. Allerdings lässt sich schwer sagen, wie hoch ihr Anteil an den Demonstrierenden insgesamt ist. Häufig nehmen sie das Heft des Handelns nicht in die Hand, sondern agieren eher unterschwellig.

Auch ist zu differenzieren: Bei der Querdenker-Demonstration in Kassel am Wochenende beispielsweise waren nur wenige Rechtsextremisten vertreten, die versammelten sich dann bei einer Demonstration in Berlin. Häufig kommt es darauf an, wer der Veranstalter ist: Wenn die Jugendorganisation der NPD zu Protesten aufruft, kommt eine andere Klientel, als wenn die Querdenker-Szene eine Demonstration ankündigt. Mitglieder der Partei „Die Rechte“ wiederum legen ein martialisches Auftreten an den Tag, eine latente Aggressivität und Gewaltbereitschaft. Sie wollen einschüchtern.

A Bernhard Witthaut, Präsident des Verfassungsschutz Niedersachsen.
A Bernhard Witthaut, Präsident des Verfassungsschutz Niedersachsen. © dpa | Christophe Gateau

Auch in Braunschweig ruft die Partei „Die Rechte“ vermehrt zu Kundgebungen auf und tritt offen aggressiv auf. Mit dabei sind Mitglieder ehemaliger neonazistischer Kameradschaften wie Adrenalin BS. Inwiefern entwickelt sich die Partei zum Sammelbecken für Neonazis?

Tatsächlich tauchten ehemalige Anhänger der neonazistischen Kameradschaften nach deren Auflösung im Kreisverband Braunschweig/Hildesheim der Partei „Die Rechte“ wieder auf. In der Folge beobachten wir nun Veranstaltungen und extremistische Aktivitäten in der Region Braunschweig, die es in dieser Form in anderen Teilen Niedersachsens nicht gibt. Dabei handelt es sich um eine überschaubare Gruppe von etwa 15 Rechtsextremisten.

Auffällig ist aber auch, dass der Kreisverband Braunschweig/Hildesheim der Partei Unterstützung aus anderen Bundesländern bekommt, bekannte Personen aus der Szene tauchen immer wieder in der Region auf. Sie wissen, dass sie hier die gewünschte Aufmerksamkeit bekommen. Bei der nächsten Demonstration der Partei am Samstag in Braunschweig tritt zum Beispiel wieder Christian Worch aus Mecklenburg-Vorpommern als Anmelder auf, der als einer der führenden Kader der deutschen Neonazi-Szene gilt.

Welche taktischen Erwägungen stecken dahinter, dass sich die Szene in der Region neu formiert hat?

Wegen ihrer besonderen Bedeutung für die parlamentarische Demokratie genießen Parteien in Deutschland eine erhöhte Schutz- und Bestandsgarantie. Die Hürden für ein Verbot sind also viel höher als bei Kameradschaften, die nach dem Vereinsrecht verboten werden können.

Sie sprachen von einer latenten Gewaltbereitschaft, die von Mitgliedern der Partei „Die Rechte“ in Braunschweig ausgeht. Welche konkrete Gefahr sehen Sie?

Es ist sicherlich nicht davon auszugehen, dass ein größerer Anschlag geplant wird. Aber einzelne Akteure fallen immer wieder durch Gewaltdelikte auf und starten Aktionen, die sich gegen bestimmte Personen oder die linke Szene richten. Wenn Sie auf einen Info-Stand der Partei zugehen, mit ihren Mitgliedern sprechen und eine andere Meinung vertreten, könnte es schnell zu einer Eskalation kommen. Die Bereitschaft, Gewalt anzuwenden ist jederzeit da. Das unterstreichen die Mitglieder auch durch ihr martialisches Auftreten. Es sind aber wie gesagt nur einzelne Personen, die durch ihre Gewaltbereitschaft auffallen.

Inwiefern stoßen aggressives Auftreten und martialische Botschaften angesichts des wachsenden Frustes über die Corona-Regelungen zunehmend auch bei denjenigen auf fruchtbaren Boden, die nicht aus der Neonazi-Ecke kommen?

In den letzten Monaten ist das Vertrauen insgesamt in die staatlichen Maßnahmen weiter gesunken. Wahrscheinlich werden wir auch am nächsten Wochenende bei den Protest-Kundgebungen sehen, dass sich die bekannten Akteure den allgemeinen Frust wieder zunutze machen, um unser System infrage zu stellen. Sie glauben, dass die Regierenden nicht mehr in der Lage sind, die politischen Probleme zu lösen und dass das demokratische System abgelöst werden muss. Das tun sie sehr lautstark kund.

Wie groß ist die Gefahr, dass sich unter diesen Einflüssen die Querdenker-Szene weiter radikalisiert?

Man konnte bereits im letzten Jahr eine zunehmende Radikalisierung der Bewegung feststellen. Dieser Trend hat sich auch 2021 fortgesetzt. Insbesondere bei bundesweiten Großevents hat sich gezeigt, dass staatliche Vorgaben zunehmend missachtet werden und sich die Demonstranten kontinuierlich radikalisieren. Sowohl Dresden als auch Kassel haben dies deutlich gemacht. Die Demonstranten missachten Vorschriften, greifen die Polizei sowohl verbal als auch physisch an und fordern in ihren Reden dazu auf das politische System zu stürzen.

Neben diesem radikaleren Vorgehen, auch bei Großveranstaltungen, sind die Reden dazu geeignet, für Einzelpersonen als Legitimationsgrundlage zu dienen, um aktiv gegen den Staat vorzugehen. Dies hat sich zum Beispiel durch Einzelaktionen gegen das Robert-Koch-Institut bereits 2020 gezeigt.

Welche Rolle spielt die Hooligan-Szene in der Region bei diesen Entwicklungen?

Eine Politisierung der Hooligan-Szene wie zu Zeiten der „Hooligans gegen Salafisten“ ist für Niedersachsen und so auch in Braunschweig aktuell nicht zu beobachten. Ungeachtet dessen gibt es in Einzelfällen Verbindungen zwischen Angehörigen der Hooligan-Szene und Akteuren der rechtsextremistischen Szene.

Diese beruhen jedoch eher auf persönlichen Kennverhältnissen und Interessen denn auf der Bereitschaft zu einem gemeinsamen politischen Aktivismus. Im Hinblick auf das Schaffen einer Drohkulisse gegenüber dem politischen Gegner kann jedoch bereits der Verweis auf entsprechende Kontakte zur Hooligan-Szene für Angehörige der rechtsextremistischen Szene von Nutzen sein.

Gibt es Gründe dafür, warum die Neonazi-Szene gerade in unserer Region so aktiv ist?

Viele Personen in der Szene leben schon jahrelang in der Region, sind hier verortet, gut vernetzt und hier auch immer schon aktiv gewesen. Sie sind bereit, in die Öffentlichkeit zu gehen. Einige treten auch als Kampfsportler und Straßenkämpfer auf und suchen bewusst die Konfrontation mit der linksextremistischen Szene und der Antifa. Sie wissen, dass sie mit ihren Provokationen Erfolg haben.

Zu beobachten war zuletzt, dass bei Kundgebungen immer wieder antisemitische Parolen gerufen wurden. Auf einer Veranstaltung riefen Rechtsextreme „Judenpresse“, „Judenpack“ und andere antisemitische Schmähungen. Ein Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung wurde eingestellt. Gehen staatliche Behörden zu lasch gegen Hetzer vor?

Nicht immer sind Bewertungen der Ermittlungsbehörden oder gerichtliche Entscheidungen einfach zu verstehen. Allein bei der Einschätzung von Gefahrenlagen und der Frage, ob und in welcher Form eine Veranstaltung zugelassen wird, gehen die Bewertungen mitunter weit auseinander. Aber wir leben in einem Rechtsstaat und müssen die Entscheidungen der Justiz akzeptieren.

Beobachten Sie, dass der Antisemitismus in der Gesellschaft, die Hetze gegen Juden, zugenommen hat?

Ja. Wir haben in den letzten Jahren festgestellt, dass der Ton in unserer Gesellschaft insgesamt rauer wird. Was man vor einigen Jahren nicht sagen konnte, wird mittlerweile eher akzeptiert. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Internet: Diffamierungen und Beleidigungen im Netz haben deutlich zugenommen. Antisemiten vernetzen sich weltweit und stacheln sich gegenseitig zum Hass an. Auch die Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie werden zum Teil zur Verbreitung antisemitischen Gedankenguts instrumentalisiert. In manchen Zirkeln werden Verschwörungstheorien mit deutlich antisemitischen Inhalten wieder salonfähig.

Umso wichtiger ist es, dass wir dagegen arbeiten – Information und Prävention sind da wichtige Bausteine. Wir müssen zum Beispiel in die Schulen gehen, dort sensibilisieren und aufklären. Wenn der Spruch „Du Jude“ auf dem Schulhof gang und gäbe wird und keiner sagt etwas, ist das sehr bedenklich. Es steht in der Verantwortung eines jeden, gegen Antisemitismus einzutreten.

Prävention zu stärken, ist ein Mittel im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Ein anderes ist, Rechtsextremisten Wege aus der Szene aufzuzeigen, sie und ihr Umfeld bei dem Ausstieg zu unterstützen. Seit 2010 gibt es die „Aktion Neustart“ des Verfassungsschutzes mit diesem Ziel. Wie lautet Ihre Bilanz?

Im Bereich Rechtsextremismus haben wir bislang 49 Personen beim Ausstieg begleiten können. 30 sind aktuell in der Betreuung. Die Bandbreite ist sehr groß: von ganz jungen Szeneeinsteigern bis hin zu langjährigen Führungspersönlichkeiten. Dass wir so viele Personen begleiten konnten, macht Mut und es zeigt, dass es durchaus Wege aus der Szene gibt.