Braunschweig. Astrazeneca wird aktuell nicht mehr in Deutschland verimpft. Die Reaktionen, die die Redaktion erreichen, schwanken zwischen Unsicherheit und Unmut.

Die Aussetzung der Corona-Impfungen mit Astrazeneca hat bei vielen Lesern Fragen aufgeworfen. Die Unsicherheit ist groß, der Unmut entsprechend. Ist meine Zweitimpfung gefährdet? Muss ich jetzt noch länger warten, bis ich dran bin? Und hört denn die Pannenserie bei der deutschen Impfkampagne nie auf?

Was ist passiert?

Am Montag hatte das für die Arzneimittel-Überprüfung in Deutschland zuständige Paul-Ehrlich-Institut (PEI) dem Bundesgesundheitsministerium die Empfehlung gegeben, das Impfen mit dem Vakzin des britisch-schwedischen Herstellers auszusetzen. Zuvor war das auch schon in anderen europäischen Ländern passiert. In Dänemark oder Norwegen etwa. In Großbritannien dagegen schreiten die Impfungen voran.

Das PEI begründete seine Entscheidung wie folgt: Bei der Analyse des neuen Datenstands erkenne man „eine auffällige Häufung einer speziellen Form von sehr seltenen Hirnvenenthrombosen (Sinusvenenthrombosen) in Verbindung mit einem Mangel an Blutplättchen (Thrombozytopenie) und Blutungen in zeitlicher Nähe zu Impfungen mit dem Covid-19-Impfstoff Astrazeneca“, schreibt die Behörde. So soll es in sieben Fällen, bei etwa 1,6 Millionen Geimpften bundesweit, zu dieser seltenen Hirnerkrankung gekommen sein. Drei der Fälle verliefen laut dem PEI-Institutspräsidenten Klaus Cichutek tödlich.

Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Impfung und Thrombose wurde bisher offenbar in keinem Fall festgestellt, wie der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), Peter Berlit, am Dienstag anmerkte. Dennoch ging das Bundesgesundheitsministerium in Person von Minister Jens Spahn (CDU) auf Nummer sicher. Es will erst dann weiterimpfen, wenn weitere Daten durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) analysiert und bewertet worden sind. Wann hier eine abschließende Entscheidung ansteht, ist noch nicht absehbar. Von wenigen Tagen bis mehreren Wochen – es stehen viele Angaben im Raum.

Das PEI rät Geimpften auf seiner Internet-Seite zudem, eine gewisse Symptomatik nach dem Erhalt der Spritze nicht zu ignorieren. Wer sich mehr als vier Tage nach der Impfung zunehmend unwohl fühle, „mit starken und anhaltenden Kopfschmerzen oder punktförmigen Hautblutungen, sollte sich unverzüglich in ärztliche Behandlung begeben“.

Das sind die Leserreaktionen

Viele Leser, die sich in der Redaktion oder auf den Facebook-Seiten unserer Zeitung meldeten, haben eine erste Impfung mit Astrazeneca bekommen. Nun wissen sie nicht, ob der zweite Termin gehalten werden kann. Unter ihnen sind Krankenschwestern, Erzieherinnen, Ärzte und Arzthelferinnen, Rettungssanitäter, Psychotherapeutinnen sowie Hochrisikopatienten mit Diabetes oder einer Herzerkrankung.

Eine junge Frau schreibt: „Ich wurde genau vor einer Woche mit Astrazeneca geimpft. Ich arbeite im medizinischen Bereich und habe daher früher als andere die Möglichkeit bekommen, mich impfen zu lassen. Ich bin eigentlich überzeugt davon, dass wir der Pandemie nur mit einer flächendeckenden Impfung und Immunisierung Herr werden können, bin jetzt aber doch auch sehr verunsichert, wie es weiter geht. Besonders besorgniserregend finde ich die Aufklärung. Jemand, der noch weniger Ahnung von Medizin hat als ich, kann mit den Meldungen nichts anfangen und gerät in Panik. Da sollte dringend Transparenz geschaffen werden.“

„Kein Grund für Panikmache“

Eine andere Kommentatorin meint: „Ich habe am heutigen Montag als eine der vorerst letzten Personen eine Impfung erhalten. Ich bin entspannt und zuversichtlich. Ich würde mir auch von ihrer Zeitung wünschen, Verunsicherungen abzubauen und die allgemeine – ich nenne es Panikmache – rund um Astrazeneca zu beenden.“ Es würden in der Population der mit Astrazeneca geimpften Personen nicht mehr Thrombosen auftreten, als auch ohne Impfung in der Allgemeinbevölkerung zu erwarten gewesen wäre. „Und vor allem nicht mehr, als wir bei vielen anderen Medikamenten bereit sind, in Kauf zu nehmen.“ Sie freue sich darauf, schreibt sie, in wenigen Wochen die zweite Impfung zu erhalten.

Eine Krankenschwester kommentiert die Lage so: „Ich arbeite in einer Notaufnahme, weshalb ich selber Mitte Februar meine erste Impfung erhalten habe. Nebenwirkungen hatte ich gar keine, mir ging es danach sehr gut. Des Weiteren nehme ich dazu sogar die Antibabypille und habe auch keine Thrombose bekommen.“ Sie glaubt, es sei ein Fehler, die Impfungen zu stoppen, denn es gelte abzuwägen, „ob man eventuell lieber eine Thrombose in Kauf nimmt oder eine Beatmung auf der Intensivstation, wenn man sich mit Covid-19 infiziert hat und dadurch noch ein viel höheres Risiko auf den Tod hat.“

Eine Altenpflegerin schreibt, ihr sei es nach der Impfung von Astrazeneca extrem schlecht gegangen, tagelang. Fieber, Schüttelfrost… Ob sie ihrem Körper eine zweite Impfung antue, wisse sie heute noch nicht. Eine Leserin aus Salzgitter merkt an, das Vertrauen in den Impfstoff sei nun völlig dahin. Sie spricht von einer Nicht-Wirksamkeit. Und ein weiterer Facebook-Post lautet: „Ich habe meine erste Impfung bekommen. Was passiert jetzt? Bekomme ich die zweite Impfung mit einem anderen Impfstoff? Ist das überhaupt gut und trage ich keinen Schaden davon? Ich bin alleinerziehende Mama und arbeite im Heim für Menschen mit Behinderung. Und bin ziemlich verunsichert...“

Das sagen Ärzte aus unserer Region

Dr. Oliver Marschal, Vorsitzender der Kreisstelle Braunschweig der Kassenärztlichen Vereinigung. In seiner Onkologischen Schwerpunkt-Praxis wurden seit einigen Tagen Patienten testweise mit Astrazeneca geimpft. Das musste nun erstmal gestoppt werden.
Dr. Oliver Marschal, Vorsitzender der Kreisstelle Braunschweig der Kassenärztlichen Vereinigung. In seiner Onkologischen Schwerpunkt-Praxis wurden seit einigen Tagen Patienten testweise mit Astrazeneca geimpft. Das musste nun erstmal gestoppt werden. © Thomas Deutschmann | Thomas Deutschmann

Fragen über Fragen, die sich auch Dr. Oliver Marschal stellt. Er spricht nicht nur für die Kassenärztliche Vereinigung (KV) in der Stadt Braunschweig, er ist auch anerkannter Onkologe. In seiner Schwerpunkt-Praxis in Braunschweig wird seit wenigen Tagen geimpft, ausschließlich mit Astrazeneca. „Das hängt mit einfacheren Lagerung des Impfstoffs zusammen“, erklärt er. Marschals Praxis ist eine von zwei Facharzt-Praxen in der Löwenstadt, in denen modellhaft getestet wird, wie niedergelassene Arzte am sinnvollsten in den Impfprozess ab April eingebunden werden können. Es geht dabei um den Austausch mit den jeweiligen Testzentren der Kommunen, die dann ihrerseits die Angaben geimpfter Personen an das Robert-Koch-Institut weiterleiten. Und es geht um die Ausweitung der Impfkampagne, die mit Hilfe der Hausärzte endlich an Fahrt gewinnen soll. Den Stopp der Impfungen nennt Marschal einen „Schlag für alle Beteiligten“. Man müsse die Entscheidung respektieren, er glaube allerdings nicht, dass damit das Vertrauen in die Impfkampagne insgesamt steigen werde.

Impfungen hätten immer Auswirkungen auf das Immunsystem. Die nun aufgetretenen Fälle einer Hirnvenen-Thrombose seien aber extrem selten. „Die Frage ist: Ist die Impfung ursächlich für die Thrombose oder wäre diese womöglich auch ohne Impfung aufgetreten?“, so Marschal. Man benötige jetzt sehr schnell Antworten und Klarheit. „Ich bin mir aber sicher, dass da jetzt im Hintergrund mit Hochdruck und mit Hilfe von Spezialisten an einer zufriedenstellenden Situation gearbeitet wird.“ Da sei jetzt richtig Druck auf dem Kessel.

So reagieren Patienten

In seiner Praxis hätte es die unterschiedlichsten Reaktionen auf den Impfstoff-Stopp gegeben. „Es gab Patienten, die konnten das verstehen, andere waren verzweifelt und wiederum andere erklärten, sie wollten sich impfen lassen, freiwillig und auf eigenes Risiko. Das konnten wir natürlich nicht machen“, sagt Onkologe Marschal.

Zur Angst einiger Erstgeimpfter, sie würden eine Zweitimpfung mit Astrazeneca nicht mehr erhalten, erklärt er: „Da sind wir in einem guten Zeitfenster. Zwischen den Impfungen können zwölf Wochen liegen. Bis dahin gibt es eine Klärung der Situation“, ist er sicher.

Mit Blick auf die Einlassung der Leserin, die nach einer Astrazeneca-Impfung mit Fieber und Schüttelfrost zu kämpfen hatte, stellt Marschal klar. „Das sind typische Impfreaktionen, die es übrigens auch bei anderen Herstellern gibt. Das hat aber nichts mit dem Impfstoff-Stopp, empfohlen durch das PEI, zu tun. Hier geht es um Nebenwirkungen, die zu schweren Komplikationen führen.“ Diese müssten ausgeschlossen, der Ursache nachgegangen werden.

Ein Kinderarzt berichtet

Der Velpker Kinderarzt Dr. Jan Matyas findet die Maßnahme der Bundesregierung nicht verhältnismäßig. Er erzählt von einer jungen Familie, die heute gerade in seiner Praxis gewesen sei. „Die hatten alle Corona. Der Mann ist nach mehreren Monaten immer noch arbeitsunfähig, die Frau kann immer noch schlecht riechen. Keiner von denen nimmt Corona jetzt auf die leichte Schulter. Das Beispiel zeigt mir, dass die Bedrohung durch das Virus viel größer ist, als die Gefahr, die durch die Astrazeneca-Impfung besteht.“

Die Entscheidung sei eine politische, sagt der Arzt, der selbst schon einmal geimpft wurde. „Jetzt habe ich aber Angst um meine Frau, die in einer inklusiven Einrichtung arbeitet. Ihr erster Termin wurde jetzt abgesagt.“ Man hätte weiter impfen sollen, während man parallel untersucht, warum es zu den Krankheitsfällen gekommen sei. „Wir verlieren doch wieder wahnsinnig an Zeit. Die Termine sind vergeben und mussten jetzt abgesagt werden. Jetzt beginnt die Planung von vorne. Just in dem Moment, wo auch die Impfzentren ihre Kapazitäten hochgefahren haben.“ Er verweist auf die Stadt Wolfsburg, „ein ausgezeichnet organisiertes Zentrum“, wie Matyas findet.

Antibabypille – erhöht die Nutzung die Gefahr?

Sowohl der Onkologe Marschal als auch der Kinderarzt Matyas sprechen die Thrombosebildung im Zusammenhang mit der Einnahme von Antibabypillen an. Diese Gefahr sei bekannt. Auch die Reaktion einer Leserin zielt drauf ab. Inwieweit Frauen einer größeren Gefahr unterliegen, diese seltene Hirnerkrankung zu bekommen, auch das müssen die Untersuchungen jetzt zeigen. Bei sechs der sieben Personen, die nach der Impfung eine Hirnvenen-Thrombose erlitten haben sollen, soll es sich um Frauen in jungem bis mittlerem Alter handeln.

Kinderarzt Matyas glaubt, dass am Ende dieses Prozesses nur die Wiederaufnahme der Impfungen stehen kann. Man sei in einem Wahljahr, da wolle man sich nicht vorwerfen lassen, leichtfertig gehandelt zu haben. „Am Ende wird der Beipackzettel um eine Zeile länger sein, ergänzt um die möglichen Risiken, die es gibt, die aber weiter sehr sehr unwahrscheinlich sind.“

Das fordert die Niedersächsische Ärztekammer

Für die Präsidentin der niedersächsischen Ärztekammer, Dr. Martina Wenker, ist der Impfstopp zwar eine „nachvollziehbare Vorsichtsmaßnahme“. Man könne jedoch prüfen, ob Impfungen nach erbrachter Einverständniserklärung durch den Patienten auf freiwilliger Basis weiter möglich seien. Das Paul-Ehrlich-Institut müsse jetzt schnell Klarheit schaffen, um nicht weiteres Vertrauen in die Kampagne aufs Spiel zu setzen, erklärte der Sprecher der Kammer, Thomas Spieker, gegenüber unserer Zeitung. „Der Stopp kommt zu einem sehr misslichen Zeitpunkt. Gerade jetzt, wo die Impfzentren mehr Termine anbieten können und wir kurz vor dem Start der Auslieferung des Johnson&Johnson-Vakzins stehen, verlieren wir wieder Zeit.“