Braunschweig. Ein bundesweiter Tarifvertrag in der Altenpflege ist vorerst gescheitert. Trotzdem wollen Vertreter aus unserer Region weiter für ihn kämpfen.

Lange Schichten, durchgearbeitete Wochenenden in der Corona-Krise, schlechte Bezahlung – der Frust ist bei vielen Pflegekräften groß. Ein flächendeckender Tarifvertrag für die Altenpflege sollte für bessere Löhne sorgen und den Beruf wieder attraktiver machen. Die Gewerkschaft Verdi hatte sich mit der Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) auf einen solchen Vertrag geeinigt. Doch Ende Februar scheiterte dieser am Veto des katholischen Wohlfahrtverbands Caritas.

Rüdiger Becker ist unter anderem Vorsitzender des Diakonischen Dienstgeberverbands Niedersachsen und im Vorstand des BVAP vertreten, dem sich neben weiteren Trägern auch die Arbeiterwohlfahrt (Awo) angeschlossen hat. Zusammen mit Rifat Fersahoglu-Weber, Vorstandsvorsitzender des Bezirksverbands Braunschweig der Arbeiterwohlfahrt (Awo) und des Arbeitgeberverbandes Awo Deutschland, zeigte er sich entsprechend enttäuscht, dass der bundesweite Tarifvertrag auf den letzten Metern gescheitert ist. Im Interview erklären sie, welche Folgen das für die Branche hat und warum sie die Hoffnung trotzdem noch nicht aufgegeben haben.

„Nach dem Klatschen kommt die Klatsche“ – so reagierte die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi am Tag, nachdem ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag für die Altenpflege gescheitert war – in Anspielung auf den Applaus, den Pflegekräfte gerade zu Beginn der Corona-Krise bekommen haben. Herr Becker, Herr Fersahoglu-Weber, Sie haben lange dafür gekämpft, dass alle Pflegekräfte dauerhaft Anerkennung erfahren und unter vergleichbaren Bedingungen beschäftigt sind. Was ist Ihnen am Tag nach dem Aus eines Flächentarifvertrags durch den Kopf gegangen?

Rifat Fersahoglu-Weber: Das Thema, endlich einen bundesweit einheitlichen Tarifvertrag in der Pflege einzuführen, treibt mich seit fast zehn Jahren um. Wenn wir etwas gegen den Fachkräftemangel tun wollen, brauchen wir eine dauerhaft finanzielle Aufwertung der Pflegeberufe, eine verbindliche Mindestausstattung für die gesamte Branche. Wir müssen den Beruf attraktiv gestalten, damit wir auch in Zukunft genügend Pflegekräfte bekommen.

Jetzt schien der Zeitpunkt günstig, um dieses Ziel endlich durchzusetzen. Im Koalitionsvertrag war vereinbart, die Bedingungen in der Pflege zu verbessern und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil zeigte sich gewillt, das voranzutreiben. Wir hatten endlich zusammen mit Verdi einen Tarifvertrag ausgehandelt – doch die arbeitsrechtlichen Kommissionen der Caritas lehnten diesen auf den letzten Metern ab. Ich muss gestehen: Ich hatte daran erstmal ganz schön zu knabbern.

Rüdiger Becker: Dass ausgerechnet eine kirchliche Kommission den Antrag auf Verbindlichkeit scheitern lässt, hat mich beschämt. Auch die Dienstgeber in der Diakonie haben sich dahinter versteckt und eine Abstimmung über einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag ausgesessen. Ermutigend ist zumindest, dass die Caritas und die Diakonie in Niedersachsen unsere Position unterstützt haben.

Obwohl wir unser Maximalziel damit nicht erreicht haben, waren wir uns in der Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche aber schnell einig: Wir machen weiter. Die Beschäftigten müssen ordentliche Bedingungen in der Pflege haben. Vor allem müssen wir verhindern, dass die unteren Lohngruppen nicht in die Altersarmut rutschen. Das Ziel ist umso wichtiger, als gerade die Nachricht kam, dass Deutschland in der Corona-Pandemie Tausende Pflegekräfte verliert. Nach einer Umfrage des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe unter knapp 3600 Beschäftigten denkt ein Drittel der Pflegekräfte darüber nach, den Beruf zu wechseln. Das ist dramatisch und wir müssen dringend etwas gegen diese Entwicklung tun.

Caritas hat einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag unter anderem mit dem Argument abgelehnt, der katholische Dienstleistungsverband zahle bereits höhere Löhne, habe bessere Arbeitszeitregelungen als im Vertrag vorgesehen. Er wollte sich also nicht nach unten anpassen. Können Sie die Argumente nachvollziehen?

Rüdiger Becker, Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Stiftung Neuerkerode.
Rüdiger Becker, Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Stiftung Neuerkerode. © Nina Stiller/ESN

Becker: Nein. Es geht doch vor allem darum, eine untere Grenze zu definieren. Hier wurde eine große Chance verpasst, die Einstiegsgehälter in der gesamten Pflegebranche deutlich anzuheben. Wenn andere über den allgemeinverbindlichen Tarifvertrag hinaus höhere Löhne zahlen wollen, können sie das weiterhin tun. Die kirchlichen Kommissionen wären also kaum von dem Tarifvertrag betroffen gewesen. Als Arbeitgeber haben wir auch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Gerade in der Pflege sollte kurzfristige Gewinnmaximierung nicht im Mittelpunkt stehen – dieses Signal nach außen zu senden, wäre wichtig gewesen.

Aber ist nicht tatsächlich die Gefahr groß, dass sich die Pflegekassen künftig am Branchentarifvertrag als Norm orientieren und nur noch diesen allgemeinverbindlichen Tarif finanzieren wollen – also die Mehrkosten der Einrichtungen nicht mehr finanzieren, die höhere Löhne zahlen?

Becker: Es ist gesetzlich festgelegt, dass die Pflegesätze einem Pflegeheim bei wirtschaftlicher Betriebsführung ermöglichen müssen, seine Aufwendungen zu finanzieren und seinen Versorgungsauftrag zu erfüllen. Arbeitgeber sind außerdem an den Tarifvertrag gebunden, den sie ausgehandelt haben und der wird auch refinanziert.

Es gibt ja bereits festgelegte Untergrenzen: den Pflegemindestlohn, der schrittweise ansteigt und auch die Differenzen zwischen West- und Ostdeutschland ausgleichen soll.

Fersahoglu-Weber: Es reicht nicht aus, auf den Pflegemindestlohn zu verweisen. Der schützt nicht vor Altersarmut. Eine Pflegehilfskraft mit Branchenmindestlohn müsste 51 Jahre lang mit 35 Wochenstunden arbeiten, um eine Rente auf Grundsicherungsniveau zu bekommen. Mit anderen Worten: Mit dem Branchenmindestlohn schaffen es ungelernte oder gering qualifizierte Pflegekräfte im Berufsleben nicht, sich eine Rente in Höhe von 832 Euro zu erarbeiten. Auch sozialpolitisch ist es also von großer Bedeutung zu verhindern, dass Beschäftigte, die ihr ganzes Leben lang zum Wohl der Gesellschaft schuften, in die Altersarmut abrutschen. Eine Aufwertung des Berufs erreichen wir nur über einen branchenweiten Tarifvertrag, der eine noch bessere Bezahlung als der Pflegemindestlohn vorsieht.

Die Caritas vermisste im Tarifvertrag auch Regelungen zu einer betrieblichen Altersvorsorge, passgenaue Arbeitszeitmodelle oder zu Überstunden-Zuschlägen…

Fersahoglu-Weber: Viele private Anbieter von Pflegedienstleistungen haben nicht einmal einen Tarifvertrag, da werden mitunter noch Dumpinglöhne gezahlt. Es ging uns darum, erst einmal Mindestbedingungen zu schaffen, einen allgemeinen Rahmen zu schaffen. Den hätte man später in weiteren Schritten füllen können. Dass auch gute Arbeitszeitmodelle oder Regelungen zur betrieblichen Altersvorsorge wichtig sind, steht außer Frage.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat schon angekündigt, er werde nun alle Wege für höhere Pflegelöhne nutzen. Die Pflege-Mindestlohn-Kommission werde neu einberufen, so dass mittelfristig höhere Lohnuntergrenzen vereinbart werden können. Was versprechen Sie sich davon?

Becker: Die Pflege-Mindestlohn-Kommission hat es bislang nicht geschafft, die Gehälter in der Pflege attraktiver zu machen. Häufig sind private Arbeitgeber-Vertreter nicht zu Sitzungen erschienen und haben eine Politik des leeren Stuhls verfolgt, weil sie damit eine Abstimmung verhindert haben. Jetzt wurden die Spielregeln der Kommission geändert: Beschlüsse zu blockieren, indem man gar nicht erst da ist, geht so nicht mehr. Insofern hat eine neue Kommission mehr Möglichkeiten und es besteht auch eine neue Chance, sich im Sinne der Beschäftigten zu bewegen.

Fersahoglu-Weber: Wir werden hoffentlich unseren Vertreter in die Kommission entsenden und erwarten, dass sich der Pflegemindestlohn an dem orientieren wird, was wir im geplanten Tarifvertrag festgelegt haben.

Rifat Fersahoglu-Weber, Vorsitzender des Awo-Bezirksverbands Braunschweig
Rifat Fersahoglu-Weber, Vorsitzender des Awo-Bezirksverbands Braunschweig © Awo Bezirksverband Braunschweig

Aber wir brauchen nicht nur höhere Löhne, sondern auch anständige Urlaubs-Regelungen oder Festlegungen zum Urlaubsgeld. In der Corona-Krise zeigt sich, dass die Pflegekräfte völlig ausgebrannt sind. Nach Monaten hoher Leistungsbereitschaft und hohem Einsatz sind viele am Ende mit ihren Kräften. Sie brauchen Erholungsphasen.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte im Herbst ein Gesetz zur Pflegereform angekündigt. Danach sollen nur noch Pflegeanbieter zugelassen werden, die nach Tarif entlohnen. Wäre das nicht ein Schritt in die richtige Richtung?

Becker: Grundsätzlich klingt es gut, wenn nur derjenige einen stationären Dienst oder ambulante Einrichtung betreiben darf, der nach Tarif bezahlt. Aber der Teufel liegt im Detail: Wie sollen wir das kontrollieren? Ein rechtsverbindlicher Tarifvertrag bedeutet eine andere Rechtssicherheit, als wenn ich analog eines Tarifvertrags bezahle. Ich würde mich freuen, wenn wir endlich im Detail über den Entwurf diskutieren könnten und ich bin gespannt, wie Bundesgesundheitsminister Spahn die Debatte nun mit privaten Verbänden führen wird.

Fersahoglu-Weber: Wenn Tarifverträge akzeptiert werden, die deutlich unter dem von uns verhandelten Niveau liegen, wäre nichts gewonnen. Wir erwarten, dass Bundesgesundheitsminister Spahn unsere ausgehandelten Mindestbedingungen akzeptiert. Bislang gibt es nur ein Eckpunktepapier. Ob ein Referentenentwurf bis Juli auf den Tisch kommt, bezweifle ich.

Sie hatten am Anfang unseres Gesprächs angekündigt, dass Sie die Hoffnung auf einen Tarifvertrag Altenpflege noch nicht begraben haben. Wie geht es nun weiter?

Becker: Wenn im Zuge der Pflegereform in den nächsten Wochen nichts passiert, werden wir wieder auf die Arbeitsrechtliche Kommission von Diakonie und Caritas zugehen. Aufseiten der Arbeitnehmer gab es durchaus überwiegend Zustimmung für einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag. Nun gilt es, noch mehr Arbeitgeber zu überzeugen. Wir müssen also im Gespräch bleiben und sollten die Erfahrungen aus der Corona-Krise nutzen, um uns branchenweit für eine bessere tarifliche Absicherung und eine höhere Attraktivität des Pflegeberufs einzusetzen.

Der Tarifvertrag Altenpflege

Die Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) ist ein Zusammenschluss von Pflegeanbietern und Wohlfahrtsverbänden. Ziel des Verbandes ist ein repräsentativer Tarifvertrag in der Altenpflege. Mit diesen tariflichen Regelungen sollen für alle Unternehmen der Pflegebranche die gleichen Mindeststandards festgeschrieben werden.

Der Tarifvertrag Altenpflege, so wie er mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ausgehandelt wurde, sah für ungelernte Pflegekräfte zunächst einen Stundenlohn von mindestens 12,40 Euro vor, der damit über dem derzeit geltenden gesetzlichen Pflegemindestlohn von 11,60 Euro (Osten: 11,20 Euro) liegt. Der Lohn sollte in mehreren Schritten stufenweise auf 14,40 Euro bis Mitte 2023 angehoben werden. Examinierte Altenpflegekräfte sollten bis dahin wenigstens 18,75 Euro pro Stunde erhalten – 3137 Euro brutto im Monat bei 39 Stunden die Woche. Das entspricht einer Steigerung gegenüber dem bisherigen Pflegemindestlohn von insgesamt 25 Prozent, hatten Verdi und BVAP ausgerechnet.

Die Zustimmung beider kirchlicher Sozialverbände, Caritas und Diakonie, ist erforderlich damit der Tarifvertrag von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) für allgemeinverbindlich erklärt werden kann. Dieser Tarifvertrag hätte damit ab August den bisher geltenden Pflegemindestlohn ersetzt.

1,2 Millionen Beschäftigte arbeiten schätzungsweise in der Altenpflege – in 15.000 Heimen und fast ebenso vielen ambulanten Pflegediensten. Gut 40 Prozent der Heime werden privat betrieben.