Braunschweig. Der 73-Jährige kann die Therapie erst beginnen, wenn er geimpft ist. Weil er eigentlich noch nicht dran wäre, hofft er auf eine neue Impf-Verordnung.

Während die begonnene Vergabe von Impfterminen für viele ein Zeichen der Hoffnung ist, führte sie für einen 73-jährigen Wolfsburger zu einer herben Enttäuschung. Der Mann, der namentlich ungenannt bleiben möchte, ist Lymphdrüsenkrebs-Patient. Nach Angaben seiner Ärzte benötigt er dringend den Impfschutz gegen das Coronavirus Sars CoV-2, damit mit der notwendigen Behandlung begonnen werden kann. Letzten Donnerstag, am 28. Januar, habe er die vom Land eingerichtete Hotline angerufen, berichtet der Wolfsburger. Er habe der Dame am anderen Ende sein Anliegen erläutert und um einen Termin gebeten. Jedoch: „Die Dame lehnte für mich einen Impftermin kategorisch ab, weil ich noch keine 80 Jahre alt bin. Dass ich ein Risikopatient bin, hat sie nicht interessiert. Auch zur weiteren Vorgehensweise habe ich keine Antwort erhalten. Lediglich einen schönen Tag hat sie mir gewünscht.“ In seiner Ratlosigkeit hat der Wolfsburger eine E-Mail an unsere Zeitung geschrieben.

Darin schildert er seinen Fall. Im November wurde er operiert, nun stehen Bestrahlung und eine Immuntherapie an – „dringend“, wie er schreibt. Damit diese Behandlung starten kann, halten die behandelnden Mediziner es für notwendig, dass er gegen Corona geimpft ist. Und das hat der Mann schwarz auf weiß: In dem Attest seines behandelnden Facharztes, das unserer Zeitung in digitaler Form vorliegt, befürwortet ein Wolfsburger Onkologie-Facharzt die Covid-Impfung für den 73-Jährigen. Neben der Diagnose „follikuläres Lymphom“ findet sich auf dem Schriftstück auch der handschriftlich vom Arzt hinzugefügte Vermerk „Therapiestart erst nach Impfung möglich – sehr hohe Priorität!“. Bei seinem Anliegen, einen Impftermin zu ergattern, half das nichts. Er erhielt eine freundliche Abfuhr.

Hotline macht keine Ausnahmen

Die Hotline des Landes und die für die Terminvergabe eingerichtete Webseite ist für Privatpersonen derzeit der einzige Weg, einen Impftermin zu bekommen, erläutert Dr. Sveja Eberhard von der AOK Niedersachsen. „Ausnahmen gelten nur für Menschen, die in bestimmten Einrichtungen wie Krankenhäusern und Pflegeheimen arbeiten und so einen Termin erhalten.“ Um eine Stellungnahme zum Fall unseres Lesers gebeten, antwortet Oliver Grimm, Sprecher des niedersächsischen Gesundheitsministeriums: „Grundsätzlich haben wir natürlich großes Verständnis dafür, dass der Herr aufgrund seiner Krankengeschichte möglichst schnell einen Impftermin bekommen möchte.“ Allerdings müsse sich Niedersachsen bei der Reihenfolge der Impfungen an die Vorgaben des Bundes halten. Und diese sehen derzeit noch keine Einzelfallentscheidungen für Menschen mit besonderen Lebensumständen oder Vorerkrankungen vor.

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Die Betonung liegt hierbei allerdings auf „derzeit“, denn die Impf-Verordnung des Bundesgesundheitsministeriums wird überarbeitet. Die Neufassung könnte bereits am Freitag, 5. Februar, in Kraft treten, heißt es in der Antwort der AOK. Impfungen von Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen könnten dann als dringlicher eingestuft werden. Zudem soll die neue Verordnung regeln, dass individuelle Entscheidungen für Priorisierungen ärztlich getroffen werden dürfen. „Das heißt, Ihr Leser hat grundsätzlich gute Aussichten, in die höhere Priorisierungsstufe zu kommen und dann früher als andere einen Impftermin zu erhalten“, schreibt Sveja Eberhard. „Dafür müssen wir aber abwarten, wie die Verordnung ab nächster Woche dann tatsächlich aussieht.“ Sobald der Bund Einzelfallentscheidungen ermögliche, werde auch Niedersachsen ein Verfahren auf den Weg bringen, um „unabhängig und fachkundig“ zu entscheiden, verspricht Grimm.

„Ihr Leser wird sich dann an eine offizielle Stelle wenden können, die seinen Antrag auf eine vorzeitige Impfung fachkundig prüft.“ Entsprechende Vorbereitungen liefen bereits. Mit einem einfachen Anruf bei der Impfhotline des Landes wird es für die Betreffenden dann allerdings nicht getan sein. „Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hotline sind weder berechtigt noch ausgebildet, um so weitreichende medizinische Entscheidungen treffen zu können“, erklärt Grimm. Die Einzelfallanträge werden dann künftig medizinisch geprüft. Um Missbrauch vorzubeugen, werden allerdings nicht die behandelnden Haus- oder Fachärzte entscheiden, sondern von Landesministerium berufene Mediziner.

Keine Impfung – keine Therapie?

Neben der politischen Frage, welche Prioritäten bei der Zuteilung der knappen Impfdosen herrschen, wirft der Fall unseres Lesers aber auch ethische Fragen auf. Darf eine dringend benötigte Krebstherapie von einer vorhandenen Corona-Impfung abhängig gemacht werden? Nein, meint Dr. Thorsten Kleinschmidt, Braunschweiger Bezirksvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen. „Sollte ein Arzt eine Corona-Impfung zur Bedingung für eine Behandlung der Krebserkrankung machen, fände ich das fragwürdig“, sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung. Erst recht gelte dies angesichts der gegenwärtigen Engpässe.

„Wenn wir genügend Impfstoff hätten, würde ich dem Patienten auf jeden Fall raten, vor einer solchen Immuntherapie seinen Impfschutz zu vervollständigen“, sagt der Allgemeinmediziner, „aber wenn das nicht klappt, darf deshalb niemand von einer dringend benötigten Therapie ausgeschlossen werden.“ Eine ähnliche Einschätzung liefert auf Anfrage unserer Zeitung Prof. Jürgen Krauter. Auch wenn der Onkologe und Chefarzt am Braunschweiger Klinikum sich nicht zur konkreten Situation des Wolfsburgers äußern kann, schreibt er, für eine angezeigte Krebstherapie „kann und soll eine Covid-Impfung keine zwingende Voraussetzung sein“.

Gleichwohl könne es „durchaus sinnvoll sein, erst die Impfung zu machen, damit ein Impferfolg da ist, und dann erst mit der Therapie zu beginnen“. Der Grund: „Es gibt klare Daten, dass der Erfolg einer Impfung vermindert sein kann, wenn der Patient vor der Impfung Chemotherapie bekommen hat.“ Erst drei bis sechs Monate nach Abschluss einer solchen Therapie sei eine Corona-Impfung wieder erfolgversprechend. Das Fazit des Braunschweiger Onkologen: „So wie der Patient das schildert, soll es nicht sein. Vielleicht handelt es sich aber auch nur um ein Missverständnis.“ Tatsächlich deutet nichts darauf hin, dass die Ärzte, die den 73-jährigen Wolfsburger behandeln, auch nur daran denken, diesem die Behandlung vorzuenthalten. „Wäre dem so, wäre das ein ziemlicher Skandal“, meint Sveja Eberhard von der AOK.

Vielmehr wollen die Mediziner offenbar das Risiko einer späteren Covid19-Infektion schon im Vorfeld der Behandlung ausschließen. „Meine Ärzte begründen die Covid-Impfung damit, dass durch die Strahlen- und Medikamententherapie mein Immunsystem sehr in die Knie geht“, erklärt der Wolfsburger. Das Risiko einer Ansteckung mit Corona während der Therapie sei nach Angaben der Mediziner sehr hoch. Mit dem überaus dringlich abgefassten Attest wollten die Ärzte ihm zu einem vorzeitigen Impftermin verhelfen. Ohne Erfolg. Die absehbare Neuregelung macht Hoffnung, dass es klappt – und unserem Wolfsburger Leser wenigstens vonseiten des Coronavirus bald keine Gefahr mehr droht.

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Klarstellung: Nicht jeder Krebspatient braucht Coronaimpfung

Wir berichteten über einen 73-jährigen Lymphdrüsenkrebs-Patienten aus Wolfsburg, der sich vergeblich um einen Corona-Impftermin bemüht hatte. Der Impfschutz gegen das Virus ist aus Sicht seiner Ärzte eine zwingende Voraussetzung für die dringend benötigte Immuntherapie.

Der Braunschweiger Onkologe Dr. Oliver Marschal weist in einer E-Mail an unsere Redaktion darauf hin, dass keineswegs alle Tumortherapien unter der Empfehlung stehen, vorab Impfungen durchzuführen. Dies sei nur dann der Fall, wenn „sehr spezielle Medikamente“ – wie der Antikörper-Wirkstoff Rituximab – zum Einsatz kommen. Diese Impf-Empfehlung gilt übrigens nicht nur für Corona, sondern grundsätzlich für alle notwendigen Impfungen.