Braunschweig. Immer wieder bricht in Pflegeheimen Corona aus, auch in unserer Region. Eine heikle Frage: Mangelt es mancherorts an Disziplin?

Sagen, was ist. Der Satz, geprägt von Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein, ist unbestritten richtig – und doch manchmal schwer umzusetzen. Das Innenleben von Alten- und Pflegeheimen war schon vor der Corona-Pandemie ein Kosmos, der für Außenstehende schwer einsehbar war. Wurde über eingekotete Bewohner, über unrechtmäßige Fixierungen oder andere skandalöse Zustände in Heimen berichtet, waren Erfahrungsberichte von Angehörigen immer wieder der Ausgangspunkt.

Oft hatten sie zunächst versucht, Heimleitung, offizielle Stellen und eingesetzte Pflegekommissionen über die von ihnen ausgemachten Missstände zu informieren, bevor sie ihre Beobachtungen öffentlich machten. Sie wollten keine schmutzige Wäsche waschen, weil es ihnen um die Sache und um den geliebten Menschen ging, den man nicht ausreichend geschützt sah.

Doch je länger die Antworten auf die drängenden Fragen auf sich warten ließen, desto mehr Frust staute sich auf. So suchte man am Ende den Weg in die Öffentlichkeit, weil sich eben nichts tat und man immer wieder gegen Wände lief, anstatt offene Türen vorzufinden.

„Helden“ in der Pandemie

Die Pandemie hat den Kosmos der Alten- und Pflegeeinrichtungen noch viel unnahbarer gemacht. Als oberste Maxime gilt: sich abzuschotten. Die Kranken, Alten und Hilfsbedürftigen müssen geschützt werden. Corona hat uns auch gelehrt, wie wichtig Mitarbeiter von Pflege- und Altenheimen sind. Sie wurden neben der Krankenschwester auf der Intensivstation, neben der Kassiererin an der Supermarktkasse und dem Polizeibeamten auf der Querdenker-Demo zu den „Helden des Alltags“. Zu Recht.

Aber warum war das so? Warum bekamen sie Applaus? War es ausschließlich Dankbarkeit oder doch Erleichterung, gerade diesen Job nicht selbst machen zu müssen?

Das Wolfsburger Hanns-Lilje-Pflegeheim wird vermutlich für immer mit der Pandemie in Verbindung gebracht werden. Es steht für den schrecklichen Anfang einer Entwicklung, die sich bis heute durchzieht: Corona-Ausbrüche in Pflege-Heimen. In Wolfsburg starben binnen weniger Wochen 47 Menschen, weil sie nicht geschützt werden konnten, vor einem Virus, dessen Grausamkeit wir heute viel besser einschätzen können als noch im Frühjahr. Das Virus kam ins Heim, es blieb und wütete – und als es ging, war nichts mehr wie vorher. Ermittler gehen davon aus, dass der Erreger von außen, vermutlich durch einen neuen Bewohner, eingeschleppt worden war. Die Tragweite dieses Ereignisses wird deutlich, wenn man weiß, wie viele Tote die Stadt Wolfsburg seit Beginn der Pandemie zu beklagen hat. 65 Menschen überlebten sie nicht.

Mehr zum Hanns-Lilje-Heim:

Das Beispiel Gifhorn

Auch rund neun Monate nach den Ereignissen in der VW-Stadt ist die Zahl der Infizierten in Heimen und Pflegeeinrichtungen bundesweit auf sehr hohem Niveau. So hoch, dass sich das Robert-Koch-Institut in seinen täglichen Bulletins genötigt sieht, immer wieder darauf hinzuweisen. Gebetsmühlenartig heißt es: „Die hohen bundesweiten Fallzahlen werden durch zumeist diffuse Geschehen mit zahlreichen Häufungen insbesondere in Haushalten, im beruflichen Umfeld und Alten- und Pflegeheimen verursacht.“ Aber was ist, wenn sich die einzelnen Faktoren gegenseitig befeuern? Partymachende Mitarbeiter von Pflegeeinrichtungen? Eine Horrorvorstellung.

Gifhorns Landrat Andreas Ebel (CDU) hat zuletzt einen beachtenswerten Satz gesagt. Dieser sorgte für soviel Zündstoff, dass er kurze Zeit später von ihm selbst wieder relativiert wurde. Und trotzdem stand das Gesagte im Raum. Ebel hatte für seinen Landkreis erklärt: „Aus den Erkenntnissen des Gesundheitsamtes wissen wir leider auch, dass sowohl durch vermeidbare Nachlässigkeiten einzelner Mitarbeiter als auch durch Besucher, die sich nicht an die gebotenen Regeln gehalten haben, das Coronavirus in die Einrichtungen getragen wurde.“

Der Landrat kündigte zudem an, eine „Pflege-Taskforce“ gründen und die Einhaltung von Hygieneregeln stärker vor Ort kontrollieren lassen zu wollen. Die Heimleitungen von Diakonie bis Awo waren angesichts von soviel Argwohn entrüstet. Statt Vorwürfen forderten sie Respekt und Solidarität mit den Beschäftigten.

Mehr dazu: Diakonie-Altenhilfe und DRK bestürzt über Gifhorner Task-Force

Aber was veranlasste Ebel, sich so zu äußern? Unkenntnis oder doch Sorge über die Lage? Denn diese war zu diesem Zeitpunkt aus dem Ruder gelaufen. Eine Inzidenz von fast 260 hatte eine Ausgehsperre zur Folge, ein bis dato einmaliger Vorgang in unserer Region. Und auch, wenn der Wert nun stark rückläufig ist, weist Gifhorn mittlerweile mehr Coronafälle als die Stadt Braunschweig auf, in der rund 80.000 Menschen mehr leben und die mehr als 12 Mal dichter besiedelt ist. Macht sich ein Landrat nicht mitschuldig, wenn er das verschweigt?

Corona-Fälle in niedersächsischen Pflegeheimen.
Corona-Fälle in niedersächsischen Pflegeheimen. © Jürgen Runo

Was Ausbrüche in Heimen befördert

Die Leitung eines Heims in der Region Braunschweig wendet sich an unsere Zeitung. Der Mann, der für sie spricht, will anonym bleiben und trotzdem etwas sagen, weil es in ihm brodelt. Wer will aber als Nestbeschmutzer gelten? Im Gespräch wird klar, das liegt im fern. Die „Helden“ aus dem Frühjahr seien auch Garanten für den Erfolg, die Pandemie in den Griff zu bekommen.

Es gehe um Respekt und Anerkennung – und um Vertrauen. „Ich muss den Menschen glauben, dass sie sich vernünftig verhalten und sich nicht privat mit vielen Freunden treffen.“ Er könne das als Verantwortlicher letztendlich aber nicht kontrollieren, so wie er auch nicht kontrollieren könne, ob Bewohner, wenn sie das Heim verlassen, ihre Kontakte auf ein Minimum beschränken oder „jeden abknuddeln“.

„Große Heime sind vermutlich anfälliger für Ausbrüche als kleine. Weil die Zahl der Kontakte, die stattfinden, automatisch größer ist.“ Man versuche daher täglich einen Spagat, der berücksichtige, dass man die Menschen nicht wegsperren dürfe und sie andererseits besonders zu schützen habe.

Seine Einrichtung sei bisher von Corona verschont geblieben – weder bei Bewohnern noch bei Mitarbeitern sei es zu einer Infektion gekommen. Das könne Zufall sein. Man achte aber penibel auf das Tragen von FFP2-Masken und die Einhaltung der Hygiene-Regeln. Zudem würden Mitarbeiter mehrmals, Bewohner einmal wöchentlich getestet. Es helfe sicherlich, dass die Einrichtung einer geringen personellen Fluktuation unterworfen sei. „Wir haben Pflegerinnen, die schon teilweise zwischen 10, 20 oder 30 Jahren bei uns arbeiten.“ Der Grad der Solidarisierung sei dadurch vermutlich auf allen Ebenen größer. Er selbst sei seit mehr als 25 Jahren in dem Heim tätig. Helfen in der Situation würde sicherlich ein Betreuungsschlüssel, der die Beschäftigten nicht überlaste und die Kontakte für die Betreuenden überschaubar halte. Eine tarifliche Vereinbarung helfe, die Menschen von dem Unternehmen zu überzeugen; häufige Betreiberwechsel schadeten dagegen eher als dass sie nützten.

Der Mann sagt aber auch: „Ich halte nichts davon, diejenigen zu bashen, die ein Altenheim als ein Investment ansehen. Die machen ihre Sache nicht automatisch schlechter, nur weil sie am Profit orientiert sind. Wer das sagt, ist ein Heuchler.“ Es sei vielfach die öffentliche Hand gewesen, die viele Heime erst zu Sanierungsfällen gemacht habe, denn schon vor Corona habe die Politik es versäumt, den Beruf attraktiver zu machen und die Belastungen zu reduzieren. Die Pandemie komme aktuell oben drauf.

Die Attraktivität des Berufes hänge aber nicht nur am finanziellen Ausgleich für die Arbeit. „Das ist ja in den letzten Jahren schon besser geworden. Aber der Effekt der Zufriedenheit verpufft ganz schnell, wenn die schlechten Arbeitsbedingungen konstant sind.“ Man solle bei der Diskussion um die Zukunft des Berufsstandes auch berücksichtigen, dass Deutschland immer stärker vergreise. „Perspektivisch brauchen wir also eher mehr junge Menschen aus dem Ausland als weniger, die diese Arbeit machen wollen.“

"Es ist auffällig, und zwar in ganz Deutschland, dass wir an dieser Stelle eine echte Schwachstelle haben", sagt Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil zur Lage in den Altersheimen. © dpa | Moritz Frankenberg

Die Situation in Niedersachsen

Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) will gar nichts beschönigen. In der Sendung „Lanz“ erklärte er zuletzt, angesprochen auf die vielen Ausbrüche und Toten in Alten- und Pflegeheimen: „Es ist auffällig, und zwar in ganz Deutschland, dass wir an dieser Stelle eine echte Schwachstelle haben.“ Jedoch habe die Politik noch nicht „den triftigen Grund“ dafür gefunden. Zur Corona-Bilanz gehöre auch: „Wir haben es mit einem schweren strukturellen Problem in unserem Pflegewesen zu tun“, ergänzte er.

Die Corona-Meldungen für den 22. Januar zeigen, was der Landesvater mit „strukturellem Problem“ gemeint haben könnte. In der Grafik nicht enthalten: die Langzeitbetrachtung. So haben 40 der 45 Kreise und kreisfreien Städte in Niedersachsen den Landesbehörden seit Beginn der Pandemie mindestens einen Corona-Fall in einem Heim gemeldet, betroffen waren mindestens 626 Einrichtungen.

Auch für Gesundheitsministerin Carola Reimann (SPD) ist das ein nicht zu akzeptierender Zustand, den man schnell in den Griff bekommen müsse. „Fast die Hälfte aller Todesfälle in Verbindung mit dem Virus betreffen in Niedersachsen Bewohnerinnen und Bewohner dieser Einrichtungen. Der Schutz dieser Personen sowie des Pflegepersonals und der Beschäftigten in den besonders von Corona betroffenen Stationen der Krankenhäuser haben für uns zunächst oberste Priorität. Wir konzentrieren uns daher weiterhin zunächst auf den Einsatz der mobilen Impfteams in den Alten- und Pflegeheimen und den Krankenhäusern“, erklärte Reimann unserer Zeitung.

Neue Testverordnung

Eine Sprecherin der Ministerin ergänzt, dass das Land Niedersachsen seit Oktober die Testverordnung des Bundes übernommen habe. Diese sah vor, Beschäftigte zweimal wöchentlich zu testen und bei einer Inzidenz von über 50 auch Besucher einmal in der Woche einem Schnelltest auf Corona zu unterziehen. Nun werde sie noch einmal angepasst. Beschäftigte und alle anderen dort tätigen Personengruppen müssten sich nun täglich vor der Arbeit testen lassen. Grund seien die hohen Inzidenzen und immer wieder Ausbrüche in den Einrichtungen. Um die Heime bei den Testungen zu entlasten, sollte in einem ersten Schritt Amtshilfe von der Bundeswehr geleistet werden. Zudem setze man jetzt auf die Impfungen, hieß es aus dem Ministerium. Das sei der Lichtblick – auch für die Beschäftigten, die sich täglich aufopferten.

Hinweise darauf, dass bestimmte Mitarbeiter für ein besonders hohes Infektionsgeschehen verantwortlich seien, habe man nicht. Der Versuch der Sprecherin, den Grund für die angespannte Lage zu erklären, bleibt daher im Ungefähren. „Pflege auf Abstand funktioniert nicht. Es gibt viele Kontakte in den Heimen, weil hier auch Aufgaben von unterschiedlichen Dienstleistern übernommen werden. Und wir sollten nicht vergessen, dass die Menschen, die andere pflegen, trotz allem ein Recht auf ein Privatleben haben.“

So sieht es bei der Inklusion aus

Auch die Geschäftsführerin des Vereins zur Förderung körperbehinderter Menschen Köki in Braunschweig, Christine Ifftner, ist sich ihrer Verantwortung bewusst. Die größte Angst der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sei, das Virus in die Familien der Kinder hineinzutragen. Bis zu vier oder fünf Hausbesuche machten Köki-Mitarbeiter laut Ifftner täglich. „Bei uns arbeiten in der ambulanten Versorgung alle Altersgruppen, überwiegend Frauen. Ihre größte Sorge ist, dass sie jemanden anstecken könnten.“ Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft Sprachbarrieren überwinden müssten, seien derzeit nicht bei Köki beschäftigt.

Bislang habe es keinen Coronafall bei Köki gegeben, erklärt Ifftner. In einem Fall habe das Gesundheitsamt eine Kollegin zur „Kontaktgruppe 1“ gezählt. Die Frau sei sofort in Quarantäne gegangen und habe sich nach wenigen Tagen wieder „freitesten“ lassen. Noch habe man bei Köki darauf verzichtet, Antigen-Schnelltests einzusetzen. Diese Tests hätten oftmals nur einen psychologischen Effekt, so Ifftner. „Wir wissen, dass die Ergebnisse mitunter ungenau und nur eine Gültigkeit für den Moment besitzen. Es kann sein, dass am nächsten Tag oder schon im nächsten Moment die Infektion erfolgt, wenn man sich zu unvorsichtig verhält.“

Ob sich Mitarbeiter in anderen Einrichtungen durch diese Schnelltests in einer falschen Sicherheit wiegen würden? „Das kann ich nicht sagen, aber die Gefahr besteht sicherlich.“ Ifftner betont, bei Köki gebe es keine Sorglosigkeit im Umgang mit dem Virus. „Im Gegenteil: die Menschen, die bei uns arbeiten, nehmen die Gefahr ernst. Sie haben schon vor langer Zeit, ihre privaten Kontakte auf das Nötigste reduziert.“ Warum deutsche Pflegeheime immer wieder zu Orten von Infektionsausbrüchen werden, darüber will Ifftner nicht spekulieren. „Es ist aber klar, wenn man sich als Mitarbeiter nicht genügend wertgeschätzt fühlt, es keine klare Führungskultur und keine angemessene Vergütungsstruktur gibt, kann das natürlich zu mehr Sorglosigkeit in seiner Freizeit führen, weil man sich auch mal ablenken will.“

Wer diese Arbeit mache, brauche nicht nur ein dickes Fell, sondern Unterstützung durch den Arbeitgeber. „Das passiert in den meisten Heimen sicherlich, aber in dieser Phase der Pandemie reicht eine Ausnahme, es reicht ein Mitarbeiter, der nicht mitmacht.“