Braunschweig. Personalmangel, mehr Bürokratie, weniger Zeit für die Kinder – die Corona-Pandemie ist auch für Kitas ein Stresstest. Ein Einblick in den Alltag.

Vor einem Jahr hätte Anneke Talke wohl kaum gedacht, dass sie mal als Krisenmanagerin arbeiten muss. Abstand halten, Kontakte vermeiden – das geht in einer Kita kaum. Dennoch versucht sie mit ihrem Team Tag für Tag, das Unmögliche möglich zu machen: Die Mitarbeiter und die Kinder vor einer Infektion zu schützen – auch ohne Maske. Gleichzeitig aber die Ängste von Kollegen, Eltern und Kindern ernst zu nehmen, auf deren Bedürfnisse einzugehen. Den Betrieb irgendwie aufrecht zu erhalten, wenn Erzieher krankheitsbedingt ausfallen. „Wir können nicht im Homeoffice arbeiten“, sagt sie. „Wir lieben alle unseren Beruf, aber gut geht es uns gerade nicht.“

Anneke Talke ist Leiterin der Kita Roseliesstraße in Braunschweig, eine Einrichtung in Trägerschaft der Arbeiterwohlfahrt (Awo). 30 Krippenkinder werden hier betreut und bis zu 25 im Kindergarten.

Im Frühjahr waren Kitas mit den Schulen die ersten Einrichtungen, die wegen steigender Infektionszahlen schließen mussten. Dann ging es über Monate mehr oder weniger im Notbetrieb weiter. Nun sollen die Kitas so lange wie möglich geöffnet bleiben. Doch wie lange ist das durchzuhalten und auch vertretbar? Wie sieht der Alltag in der Kita aus, wenn bundesweit immer neue Rekordzahlen an Corona-Infektionen gemeldet werden? Um Kontakte auf das Notwendigste zu beschränken und das Infektionsrisiko so gering wie möglich zu halten, ist ein Besuch in der Kita nicht möglich. Anneke Talke am Telefon einen Einblick in ihre Arbeit.

Gerade in der Eingewöhnung brauchen Kinder viel Nähe – die Zeit ist kürzer geworden

„Unser Tagesablauf wird jetzt dadurch bestimmt, wie wir die Hygieneregeln einhalten können“, sagt sie. Eltern dürfen die Einrichtung nicht mehr betreten. Ihre Kinder geben sie stattdessen an den Terrassentüren zu den jeweiligen Gruppenräumen ab. Es bleibt wenig Zeit für die Übergabe – und den Austausch der wichtigsten Informationen: Hat das Kind gut geschlafen? Gut gegessen? Wie ist die Stimmung? Jacken ausziehen, Wechselkleidung in die Fächer sortieren, Schuhe sortieren – das müssen nun die Erzieher übernehmen. Dann geht es zum Händewaschen. Und schon stehen wieder die nächsten Eltern vor der Tür. „Für die Kinder ist das sehr unglücklich“, sagt die Kita-Leiterin. Gerade in der Phase der Eingewöhnung bräuchten die Kleinen viel Nähe, Zeit, um anzukommen. Diese Zeit ist kürzer geworden. „Man kann nicht mehr länger mit einem Kind kuscheln oder in Ruhe ein Buch lesen, wenn man gleich wieder zur Tür muss.“

Immer wieder werden Spiele unterbrochen, geht es zwischendurch zum Händewaschen, immer wieder müssen Spielzeug, Tische, Klinken desinfiziert werden. Außerdem gibt es jetzt in jeder Gruppe Wecker, die alle 30 Minuten klingeln, erzählt Anneke Talke. Die Kinder haben schon verinnerlicht. Sie rufen: „Lüften“ – und die Fenster werden aufgerissen. Weil es in den Räumen dadurch kühler wird, flitzen Mitarbeiter wieder los, um Fleecejacken zu holen. Nach dem Essen heißt es: Fertigmachen für den Mittagschlaf. Und danach stehen schon wieder die ersten Eltern vor der Tür.

Erzieher können nicht einfach auf Abstand gehen

Wenn die Kleinen Mama oder Papa hinter der Fensterscheibe sehen, wollen sie am liebsten losstürmen, in ihre Arme laufen. Doch auch beim Abholen müssen die Eltern draußen warten, bis die Erzieher die Kinder angezogen haben. Sie vom Fenster wegzuziehen, fortzugehen zur Garderobe im Flur, bedeutete wieder Stress, wieder liefen Tränen. „Jetzt haben wir mobile Garderoben gebaut, die wir an die Fenster schieben können, so dass es beim Fertigmachen Sichtkontakt gibt“, sagt Anneke Talke. Not macht erfinderisch. Sie ist froh, dass die Eltern mit Verständnis reagieren – und auch akzeptieren, dass ein direkter Austausch in der Kita derzeit nicht möglich ist. Stattdessen vereinbaren die Erzieher bei Bedarf Telefongespräche, auch die müssen in die Arbeitsabläufe passen. Irgendwie.

Tatsächlich haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kitas schon vor der Corona-Krise immer wieder am Limit gearbeitet, überall. Besonders im Herbst und Winter kommt es häufig zu Personalengpässen. Wer sich eine Erkältung oder Grippe eingefangen hat, fällt für die Arbeit in der Einrichtung aus und kann kurzfristig nur schwer oder gar nicht ersetzt werden. Nun kommt noch Corona dazu, eine weitere Gefahr. „Wie gehe ich mit Kollegen um, die zu einer Risikogruppe gehören?“, fragt Anneke Talke. Gerade Krippenkinder seien auf Körperkontakt angewiesen, um sich gesund entwickeln zu können. Und auch die älteren müssen getröstet werden, wenn sie traurig sind. Da könne man nicht einfach sagen: Wir müssen Abstand halten, setzen eine Maske auf. Mimik erkennen zu können, ist wichtig für Kinder.

Für die Betreuerinnen und Betreuer ist der ständige Konflikt belastend: die Gratwanderung zwischen Nähe und Abstand, Gesundheitsschutz und pädagogischen Auftrag. Und der ständige Umgang mit der Angst. Gerade war ein Kind in der Awo-Kita Fremersdorfer Straße an Covid-19 erkrankt, die Kinder und Erzieher der Einrichtung mussten in Quarantäne. „Da gingen auch bei uns gleich die Alarmglocken an.“

„Wir dokumentieren uns die Finger wund“

Aber auch für die Kinder hat der Alltag im Krisenmodus Folgen: Das Thema Corona ist immer da, es beschäftigt selbst die Kleinsten. Regeln ändern sich, Menschen weichen sich aus, möglicherweise fallen gemeinsame Nachmittage mit Oma und Opa weg, lieb gewonnene Gewohnheiten. Auch in der Kita hat sich zwangsläufig vieles geändert: Singen, Spiele im kleinen Kreis – all das ist derzeit nicht möglich. Inwiefern übermitteln auch Mitarbeiter unbewusst eigene Ängste? Anneke Talke fragt sich besorgt, wie sich die ganze Situation langfristig auf die Entwicklung der Kinder auswirken wird. „Kinder haben feine Antennen.“

Die Erzieher wollen so gut es geht auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen – auch wenn inzwischen immer mehr Zeit für zusätzliche Aufgaben anfällt. „Wir dokumentieren uns die Finger wund.“ Wann wird welches Kind gebracht? Wann ist welcher Mitarbeiter in welcher Gruppe? Alles muss akribisch festgehalten werden. „Das kostet viel Zeit – Zeit, die für die Arbeit mit den Kindern verloren geht.“

Zwar heißt es, die Kitas seien wieder zum Regelbetrieb übergegangen. Aber darunter versteht Anneke Talke einen Betrieb, wie es ihn vor der Corona-Pandemie gegeben hat. Noch könnten die Kitas zwar ihrem Betreuungsauftrag nachkommen, sagt sie. „Mit Bildung hat das aber nichts mehr zu tun.“