Braunschweig. Das von Emmanuelle Charpentier mitentwickelte Werkzeug hat eine gentechnische Revolution eingeläutet, wirft aber auch ethische Fragen auf.

Oft dauert es mehrere Jahrzehnte, bis die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften Forscher für ihre herausragenden Entdeckungen mit dem Nobelpreis belohnt. Nicht so dieses Jahr. Die Entwicklung der sogenannten Gen-Schere „Crispr/Cas9“, für die die beiden Biochemikerinnen Emmanuelle Charpentier und Jennifer A. Doudna am Mittwoch den Chemie-Nobelpreis zuerkannt bekommen haben, liegt gerade einmal acht Jahre zurück. In dieser verhältnismäßig kurzen Zeit seitdem hat das Verfahren eine wissenschaftliche Revolution ausgelöst. Heute ist die Gen-Schere, die gezielte Veränderungen am Erbgut erlaubt, aus dem Instrumentenkasten der Gentechnik nicht mehr wegzudenken.

Crispr/Cas9 ermöglicht, in den Bauplan des Lebens einzugreifen

„Jedes biomedizinische Forschungszentrum auf der Welt nutzt dieses Werkzeug heute“, erklärt Dirk Heinz, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung in Braunschweig, wo Charpentier von Ende 2012 bis Ende 2015 tätig war, bevor sie nach Berlin zur Max-Planck-Gesellschaft wechselte. Die Gen-Schere erlaubt, etwas über die Funktion einzelner oder mehrerer Gene herauszufinden, indem man diese gezielt ausschaltet. Vor Crispr/Cas9 war das extrem aufwendig und mühsam. Die neue Methode bedeutete hier einen Durchbruch. Dank ihr ist es heute möglich, „den Code des Lebens innerhalb weniger Wochen zu verändern“, heißt es in der Pressemitteilung der schwedischen Akademie. Heinz fasst zusammen: „Sie ist ein grandioses, mächtiges, dabei unglaublich einfach zu handhabendes Werkzeug – ein echter Geniestreich.“

Nutzen für Landwirtschaft und Medizin

Die gentechnische Revolution, die Crispr/Cas9 ausgelöst hat, ist noch in vollem Gange. Seit der Entwicklung der Gen-Schere im Jahr 2012 – die maßgebliche Studie veröffentlichten die beiden Forscherinnen kurz vor Charpentiers Wechsel nach Braunschweig – hat sich deren Gebrauch

Dirk Heinz, Professor für Strukturbiologie an der Technischen Universität Braunschweig, leitet seit August 2011 das HZI als Wissenschaftlicher Geschäftsführer.
Dirk Heinz, Professor für Strukturbiologie an der Technischen Universität Braunschweig, leitet seit August 2011 das HZI als Wissenschaftlicher Geschäftsführer. © HZI | Verena Meier

explosionsartig verbreitet und bereits zu vielen weiteren bedeutenden Entdeckungen der Grundlagenforschung beigetragen. Die schwedische Akademie verweist etwa auf die Entwicklung feuchtigkeits-, krankheits- und dürrebeständiger Kulturpflanzen für die Landwirtschaft. Die Medizin entwickele mit der Gen-Schere neue Therapien gegen Krebs und Erbkrankheiten. „Dieser Traum wird bald wahr werden“, schreibt die Akademie. „Die Gen-Schere hat eine neue Epoche der Lebenswissenschaften eingeläutet und bietet der Menschheit den allergrößten Nutzen.“

Wie groß dieser Nutzen ist, wird auch davon abhängig, wie die Menschheit künftig Gebrauch von der Methode macht. „Ermöglichen wir damit gezielte Heilung, oder wollen wir optimierte Menschen schaffen?“, fragte Dirk Heinz etwa 2019 bei einer Diskussionsveranstaltung unserer Zeitung zur Gen-Schere. „Es ist nicht auszudenken, was die Nazis damit angerichtet hätten, wenn sie solch ein Tool zur Hand gehabt hätten.“

Gen-Schere wirft ethischen Fragen auf

Doch nicht nur in der Theorie wirft die Gen-Schere ethische Fragen auf. Ende 2018 schockierte der chinesische Genforscher He Jiankui die internationale Wissenschafts-Community mit der Behauptung, er habe mittels Crispr/Cas9 im Erbgut menschlicher Embryonen ein Gen ausgeschaltet, um die Kinder dadurch resistent gegen das Aids-Virus HIV zu machen. Genforschers weltweit verurteilten damals die als Tabubruch empfundenen Experimente des chinesischen Forschers als unethisch. Charpentier sagte damals: „He Jiankui hat eindeutig eine rote Linie überschritten, weil er die Sorgen der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft in Bezug auf die Editierung menschlicher Keimbahnen ignoriert hat.“ Ihre Kollegin Doudna forderte ein weltweites Moratorium: Wissenschaftler sollten sich verpflichten, auf Eingriffe in die menschliche Keimbahn, also in Spermien, Eizellen oder Embryos, zu verzichten.

Lob vom Ex-Ethikrat-Chef

Peter Dabrock, ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Ethikrats lobte anlässlich der Nobelpreis-Entscheidung den differenzierten Blick der Preisträgerinnen auf das Potenzial der von ihnen entwickelten

Während ihrer Zeit am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, aus der dieses Foto stammt, zählte Emmanuelle Charpentier zu den renommiertesten Wissenschaftlern in Braunschweig.
Während ihrer Zeit am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, aus der dieses Foto stammt, zählte Emmanuelle Charpentier zu den renommiertesten Wissenschaftlern in Braunschweig. © Archiv | Peter Sierigk

Gen-Schere. „Emmanuelle Charpentier und Jennifer A. Doudna haben von Anfang an die ethische und soziale Komponente ihrer Forschung mitbedacht. Das hat mich sehr beeindruckt“, sagte er am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur. Deshalb freue er sich sehr über die Auszeichnung der beiden Forscherinnen.

Dabrock sieht mehrere zentrale Fragen beim künftigen Umgang mit der Gen-Schere: „Wollen wir, dass mit Hilfe von Crispr/Cas9 gentechnisch veränderte Babys geboren werden dürfen?“ „Glauben wir, die Evolution steuern zu können?“ Damit bezieht er sich auf die Möglichkeit, das Erbgut freilebender Tiere dauerhaft zu verändern – etwa Mücken einzudämmen, die Krankheiten übertragen. „Sollten wir die Chancen, die Crispr in der Landwirtschaft bietet, neu diskutieren?“

Crispr – ein Mechanismus aus der Natur

Ursprünglich beruht die Crispr/Cas9-Methode auf einem Abwehrmechanismus von Bakterien gegenüber Viren. „Die Natur hat ja nicht vorgesehen, dass das mal ein Werkzeug zur Veränderung von Genomen wird“, sagt Heinz. Diese Brücke zu schlagen, sei die besondere Leistung von Emmanuelle Charpentier. Zusammen mit ihrer US-Kollegin Jennifer Doudna habe sie erkannt, dass dieser Mechanismus, Crispr genannt, zum Schneiden von DNA genutzt werden kann. „Diesen gedanklichen Sprung – von der Entdeckung hin zum gezieltem Einsatz – hat sie unwahrscheinlich schnell geschafft. Dieser scharfe Blick für das Potenzial von Entdeckungen zeichnet Emmanuelle Charpentier aus.“

Nach seinen persönlichen Eindrücken von Emmanuelle Charpentier gefragt, hebt HZI-Chef Heinz die „elegante Erscheinung“ der 51-jährigen Französin ebenso hervor wie ihren immerwährenden Forscherdrang: „Sie ist neugierig, ambitioniert, fleißig und fokussiert. Sie geht den Dingen auf den Grund und macht dabei keine Kompromisse.“ Forschung als Lebensinhalt – diesen Geist stelle die neue Nobelpreisträgerin überzeugend dar. „Sie brennt einfach für das, was sie tut, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.“