Celle. Lorin I. aus Niedersachsen reiste zum Islamischen Staat aus. Vor Gericht in Celle muss sie nun Erklärungen für ihr Leben finden.

Es gibt ein Foto, das Lorin I. mit Kriegswaffen zeigt, mit einer Kalaschnikow, Handgranate, einer Repetierflinte. So steht es später in der Anklageschrift. Sie schickt es mit einer klaren Botschaft an ihre Schwägerin nach Deutschland: „Ich warte hier auf Dich“, tippt die junge Frau in ihr Handy. Es ist der 28. April 2015, einige Monate nachdem sie zusammen mit ihrem Ehemann nach Syrien gereist ist, um sich der Terrormiliz Islamischer Staat anzuschließen. Doch bald wird sie diesen Schritt bitter bereuen. So sagt sie es jedenfalls. „Der Tod dort ist allgegenwärtig, das Leben die reinste Hölle.“

Lorin I. ist dieser Hölle entkommen, sie ist aus Syrien geflohen und doch nicht frei. Die 30-Jährige sitzt im Hochsicherheitssaal des Oberlandesgerichts in Celle, eine kleine, kräftige Frau mit langen dunklen Haaren und sucht nach Antworten.

Lorin I. soll ihren Ehemann beim bewaffneten Kampf unterstützt haben

Seit Anfang Juli läuft der Prozess gegen die Niedersächsin vor dem Oberlandesgericht in Celle. Es ist das erste Verfahren dort, bei dem sich eine Frau wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an der Terrormiliz Islamischer Staat verantworten muss. Die Vorwürfe wiegen schwer: Lorin I. soll mit ihrem Ehemann Sonar A. nach Syrien ausgereist sein, um dessen bewaffneten Kampf zu unterstützen. Als Teil eines sogenannten Schwesternnetzwerks radikalisierter Frauen versuchte sie laut Anklage zudem, weitere Frauen in Deutschland für die Terrormiliz zu werben und zur Heirat an Kämpfer zu vermitteln. Weil sie auch Gewehre und eine Handgranate besessen haben soll, wirft ihr die Generalstaatsanwaltschaft außerdem einen Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz vor.

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Was bringt Frauen dazu, ein Leben in Freiheit und Sicherheit hinter sich zu lassen, um in den Krieg zu ziehen? Sich einer T errororganisation anzuschließen, in der sie ihren Ehemännern und den patriarchalischen Machtverhältnissen schutzlos ausgeliefert sind? Und wie gefährlich sind diese Frauen nach ihrer Rückkehr? Schaffen sie es tatsächlich, sich von der extremistischen Ideologie loszusagen?

Die Niedersächsin erzählt von den Gräueltaten des Islamischen Staats

Zu Beginn des Prozesses verliest Lorin I. eine kurze Stellungnahme, in der sie einräumt, zum IS ausgereist zu sein. Doch der Vorsitzende Richter Ralf Günther macht im Anschluss deutlich, dass wichtige Indizien gegen sie sprechen. Am zweiten Prozesstag gesteht sie dann einen Großteil der Anklagepunkte – von einem Schwesternetzwerk will sie aber nach wie vor nichts wissen. Sie habe nie Frauen zur Ausreise bewegt und Ehen vermittelt.

Lorin I. kann ruhig, ganz sachlich über ihr Leben erzählen – von Gräueltaten des Islamischen Staats, von Krieg, Hunger, Flucht und von Ehemännern, die sie misshandelten. Nur manchmal stockt sie, muss um Worte und um Fassung ringen.

Geboren wird sie in Aleppo, Syrien, ein Land, mit dem sie sich bis heute eng verbunden fühlt. Mit zehn Jahren kommt sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Ihr Vater stirbt 2007 bei einem Lkw-Unfall, seine Familie zwingt sie zur Heirat mit einem Mann, den sie nicht liebt. Die Ehe geht bald in die Brüche. „Ich fing an, den Islam zu praktizieren“, sagt sie. Der Glaube habe ihr etwas von der verlorenen Lebensqualität zurück gegeben. Sie zieht nach Dortmund, wird die zweite Frau nach islamischen Recht von Anil O., der sich in islamistischen Kreisen bewegt und Sympathien für den IS zeigt. Auch diese Ehe scheitert, weil Anil O. sie schlecht behandelte, wie sie sagt.

Lorin I. glaubt lange, dass sie nur beim IS den wahren Islam ausleben kann

Nach der Scheidung kommt sie wieder in Kontakt mit einem jungen Mann, den sie über das Internet kennengelernt hat, Sonar A. In der Zeit befasst sie sich viel mit der Situation in Syrien, seit 2011 tobt ein Bürgerkrieg in ihrer Heimat, sie betrachtet die Bilder, liest von Bomben, Toten, der Not der Bevölkerung. Ungefiltert kommen die Botschaften auch radikaler Gruppen über das Internet nach Europa. Sonar A. möchte ausreisen und er knüpft die Heirat an die Bedingung, mit ihm zu gehen. Spätestens als der IS das Kalifat ausruft, verfängt die IS-Propaganda endgültig auch bei Lorin I. Sie glaubt, dass die selbst ernannten Gotteskrieger ihrem Volk helfen wollen, dass sie nur beim IS den wahren Islam ausleben kann. „Irgendwann haben sie mich überzeugt, dort zu leben.“

Rückblickend weiß die junge Frau, wie naiv sie damals gewesen ist. „Wenn man kein Wissen hat, kann man Dreck für Gold halten“, sagt sie. Dem IS sei jedes Mittel recht gewesen, um seine Ziele zu erreichen. Doch damals erscheint dem jungen Paar das Leben in einem neuen Gottesstaat als einzige Perspektive. Lorin I. sucht nach Erklärungen: Sie habe sich in Deutschland als Ausländerin, als Muslimin, nicht willkommen gefühlt. Weil sie erst ein Kopftuch, später dann auch eine Vollverschleierung getragen habe, sei sie abschätzig angeguckt und behandelt worden. „Ich habe mich danach gesehnt, irgendwo zu leben, wo ich nicht beleidigt werde.“

Das mutmaßliche Netzwerk um den Prediger Abu Walaa soll sie unterstützt haben

Im Dezember 2014 reist sie mit Sonar A. nach Syrien aus, ihr Mann will für den IS kämpfen und Islamwissenschaften studieren – das mutmaßliche Netzwerk um den Hildesheimer Prediger Abu Walaa soll sie laut Anklage dabei unterstützt haben. Auch der Iraker muss sich unter anderem wegen Mitgliedschaft beim IS vor Gericht verantworten, seit drei Jahren läuft bereits der Prozess gegen ihn und weitere Angeklagte vor dem OLG in Celle, im selben Saal, in dem jetzt Lorin I. über ihr Leben spricht.

Ihr Bild von einem idealen Staat bekommt schon kurz nach ihrer Ankunft Risse. Lorin I. erinnert sich an eine Frau, die von der Heirat ihrer 14-jährigen Tochter mit einem Stammesfürsten erzählt. Dieser habe das Mädchen so brutal vergewaltigt, dass sie ins Krankenhaus musste. Ihr Ehemann drohte dem Arzt mit schlimmen Folgen, falls er sie behandeln sollte. Das tat er dann auch nicht. Bei Lorin I. kommen Zweifel auf: Was ist das für ein Staat, in dem Brutalität und Missbrauch ohne Folgen bleibt?

Mit ihrem Mann lebt sie zunächst in Rakka, sie führt den Haushalt, er ist häufig nicht da, zieht in den Kampf oder nimmt an Islam-Unterrichten teil. Was er genau macht, weiß sie angeblich nicht. „Männer haben mit ihren Frauen nicht über Details gesprochen“, sagt sie. Die Wohnung verlässt sie kaum und wenn nur in Begleitung ihres Mannes. Sonar A. ist streng, sie darf nicht vor anderen Männern sprechen, aber er habe sie nicht schlecht behandelt, beteuert sie.

Lorin I. flüchtet mit ihren vier Kindern aus Syrien

Nach und nach sollen auch ihm Zweifel gekommen sein. soll er sich immer kritischer gegenüber dem IS geäußert haben. Mehrfach sei er deshalb inhaftiert und auch gefoltert worden, erzählt Lorin I. Sie erinnert sich, dass er schreckliche Szenen aus der Haft schilderte: Gefangene seien in Plumpsklos gesperrt oder gefesselt zum Sterben zurückgelassen worden. 2017 kommt Sonar A. schließlich in Gefangenschaft ums Leben. Lorin I. ist längst Mutter, möchte raus aus dem Land. Doch wie soll sie überleben ohne Hilfe und ohne Geld? Sie heiratet ein viertes Mal, einen Marokkaner, der verspricht, sich um sie zu kümmern. Doch nach der Heirat fängt er an, sie zu schlagen. 2019 gelingt Lorin I. mit ihren vier Kindern die Flucht aus Syrien in die Türkei, wo sie im Dezember 2019 nach Deutschland abgeschoben wird.

Dass die Deutsch-Syrerin lange eine glühende Anhängerin des IS war, dafür gibt es laut Anklage eine Reihe von Beweismitteln, Chatverläufe, Audiodateien, Fotos wie das mit den Waffen, das sie an ihre Schwägerin schickte. Sie habe nicht darüber nachgedacht, welche Konsequenzen ihre Nachrichten haben könnten, sagt Lorin I. heute. Und ja, sie habe Zugriff auf Sonars Waffen gehabt. Sie dachte, es sei Pflicht gewesen, sie bei sich zu tragen, weil es auf offener Straße sonst zu gefährlich gewesen sei. Aber sie habe die Waffen nie benutzt.

Seit Monaten hat die Niedersächsin ihre Kinder nicht mehr gesehen

Die Richter werden bewerten müssen, wie glaubwürdig ihre Erklärungen sind. Schließlich steht die Niedersächsin unter großem Druck: Seit Monaten hat Lorin I. ihre Kinder nicht mehr gesehen. Ihre jüngsten waren noch Babys, als sie die beiden das letzte Mal in den Armen hielt, erzählt sie mit brüchiger Stimme. Sie befinden sich in der Obhut des Jugendamtes. „Die Sehnsucht nach meinen Kindern ist eine große Qual.“ Es sind solche Momente, in denen man spürt, wie ihr die Haft zusetzt, in denen sie noch immer in einem langen Albtraum gefangen zu sein scheint.

Lorin I. nimmt im Gefängnis an einem Programm des Verfassungsschutzes teil, das ihr helfen soll, aus der extremistischen Szene auszusteigen. „Ich glaube immer noch an meinen Gott“, sagt sie. Aber nicht mehr an einen Gottesstaat, der Schrecken und Terror verbreite. Heute wisse sie: „Diskriminierung ist ein Unrecht, aber ein radikaler Islam ist es auch.“ Gerne würde sie in Deutschland bleiben, sich einfügen in die Gesellschaft, sich womöglich sogar politisch engagieren und mit ihren Kindern einen Neuanfang starten, sagt sie: „in einer zivilisierten Gesellschaft und an einem sicheren Ort“.