Braunschweig. Die industrielle Entwicklung von Antibiotika hält mit den Erregern nicht Schritt. Hoffnung verspricht ein neuer Wirkstoff.

Antibiotika in der Tierhaltung sollte man verbieten. Antibiotika wurden für die Heilung hergestellt und für nichts anderes.

Dies bemerkt Flo Boldovina auf unseren Facebook-Seiten

Zum Thema recherchierte Andreas Eberhard

Segen und Fluch liegen manchmal nah beieinander. Ohne Antibiotika ist moderne Medizin nicht denkbar. Aber ohne den massenhaften – und nicht selten falschen – Einsatz der Antibiotika wären resistente Keime heute nicht das Problem, das sie sind. Neue Antibiotika zu entwickeln, ist langwierig und teuer – ein Aufwand, den Unternehmen scheuen. Ein weiteres Risiko für Firmen: Um neuen Resistenzen vorzubeugen, sollen die neuen Antibiotika idealerweise nur in Notfällen eingesetzt werden. Dem Absatz förderlich ist das nicht gerade. Die Folge des Schlamassels: Die Entwicklung neuer Medikamente hinkt den Resistenzen der Erreger hinterher.

Vom Krebsmedikament zum Antibiotikum

Am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) widmet man sich diesem Problem schon länger intensiv. Die Forscher auf dem „Science Campus Braunschweig Süd“ im Stadtteil Stöckheim suchen nach neuen Wegen, um neue, wirksame Antibiotika zu schaffen. Als ein solches könnte sich der neue Wirkstoff „PK150“ erweisen, wie das HZI jetzt mitteilte. Um den aufwendigen Entwicklungsprozess abzukürzen, haben Wissenschaftler der Technischen Universität München zusammen mit dem HZI einen Wirkstoff aus einem Krebsmedikament isoliert. Das weiterentwickelte Molekül, teilten die Forscher mit, beseitige selbst hartnäckige Infektionen mit dem multiresistenten MRSA-Keim effektiv, ohne dass Resistenzen auftreten – ein neuer, hocheffektiver Wirkstoff.

Der große Vorteil des Ansatzes, den die Münchner und Braunschweiger Forscher gewählt haben: Das Krebsmedikament „Sorafenib“, von dem die Forscher ausgingen, ist bereits zugelassen. „Zwar ist der darin identifizierte und jetzt modifizierte Wirkstoff noch nicht soweit, dass er sofort auf den Markt könnte“, sagt Prof. Eva Medina, seit 2004 Leiterin der Arbeitsgruppe Infektionsimmunologie am HZI. „Trotzdem ist der Aufwand bei diesem Weg deutlich geringer, als wenn man einen Wirkstoff völlig neu entwickelt.“

Unter Laborbedingungen keine Resistenzen

„Bei unseren Laborversuchen haben wir auch getestet: Wie schnell bildet das Bakterium Resistenzen gegen das Antibiotikum heraus?“, berichtet die aus Spanien stammende Forscherin. Dass sich die Keime anpassen, um den Medikamenten zu widerstehen und zu überleben, ist ein natürlicher Prozess. Während Staphylokokken gegen andere Antibiotika relativ schnell Resistenzen entwickeln, lautete das erstaunliche Ergebnis der Versuche mit PK150: Zumindest unter Laborbedingungen entwickelten die Bakterien auch mit der Zeit keinerlei Resistenzen gegen das Medikament.

Schlechte Karten für MRSA-Keime

Obwohl die Immunologin nicht kategorisch ausschließt, dass das Antibiotikum eines Tages vielleicht doch resistent gegen „PK150“ werden könnte, sagt sie: „Diese Resistenzen bilden sich bei weitem nicht so schnell, wie bei herkömmlichen Antibiotika.“ Der Grund: Die Bakterien haben schlechte Karten, weil das Antibiotikum sie zeitgleich an unterschiedlichen Stellen angreift. Einerseits, so die Forscher, werde ein für den bakteriellen Energiestoffwechsel wichtiges Protein gehemmt. Andererseits wirke „PK150“ auf die Zellwand ein – und bringe die Zellen letztlich zum Platzen. Auf den Elektronenmikroskop-Aufnahmen, die die Forscher veröffentlichten, ist dies gut zu sehen.

Schlummernde Bakterien werden angegriffen

Eine Ursache der Hartnäckigkeit von Infektionen mit MRSA-Keimen liegt darin, dass die Bakterien in eine Art Ruhezustand verfallen können und so für das Immunsystem oder herkömmliche Antibiotika

„Was wir letztlich brauchen, ist eine große Palette an Antibiotika. Nur so halten wir Resistenzen in Schach“, sagt Prof. Eva Medina, Leiterin der HZI-Forschungsgruppe Infektionsimmunologie.
„Was wir letztlich brauchen, ist eine große Palette an Antibiotika. Nur so halten wir Resistenzen in Schach“, sagt Prof. Eva Medina, Leiterin der HZI-Forschungsgruppe Infektionsimmunologie. © HZI | HZI

schwer zu erreichen sind. Auch diese „schlummernden“ Bakterien werden von dem neuen Wirkstoff erreicht, erklärt Projektleiter Prof. Stephan Sieber von der TU München: „PK150 tötet auch diese persistierenden, also überdauernden Zellen sowie Keime, die sich geschützt in Biofilmen befinden. Es hat also zahlreiche Eigenschaften, die es zu einem hoffnungsvollen Antibiotika-Kandidaten machen.“ Derzeit werde der neue Stoff weiter verbessert, um anschließend in die klinische Entwicklung zu gehen.

Medina fordert „Vernünftigen“ Antibiotika-Gebrauch

„Was wir letztlich brauchen, ist eine große Palette an Antibiotika“, fasst Eva Medina zusammen. Nur eine Vielfalt erlaube es, bei den eingesetzten Medikamenten zu „rotieren“, also nicht immer das selbe zu nehmen. Nur so könne man Resistenzen in Schach halten. Ebenso wichtig sei ein vernünftiger Gebrauch von Antibiotika. Durch den Einsatz in der Massentierhaltung finde man heute fatalerweise „praktisch überall“ Spuren von Antibiotika. Doch der vernünftige Gebrauch fange bei jedem selbst an: Statt bei einer Halsentzündung reflexartig zum Antibiotikum zu greifen, sollte der Arzt zunächst unbedingt klären, ob überhaupt Bakterien die Krankheit verursachen oder womöglich Viren. Gegen die richten Antibiotika nämlich nichts aus.

Nachbesserungsbedarf sieht sie auch in deutschen Krankenhäusern. „Würden die Patienten, wie in den Niederlanden, bei der Aufnahme auf MRSA untersucht und gegebenenfalls von anderen Patienten isoliert, würde Deutschland beim Thema Krankenhauskeime deutlich besser dastehen.“ 20 bis 23 Prozent der Menschen tragen das Bakterium in der Nase. Für Menschen mit gesundem Immunsystem stellt es in der Regel kein Problem dar.