„Das Wissen und das Können haben wir. Das Wollen und das Dürfen müssen wir wiederentdecken.“

Freuden sind unsere Flügel, Schmerzen unsere Sporen.Jean Paul

Friedrich Schiller hätte möglicherweise begeistert auf die Schenkel geklatscht: „Recht hatte ich mit der Ode An die Freude!“ „Deine Zauber binden wieder, was der Mode Schwert geteilt; Bettler werden Fürstenbrüder, wo dein sanfter Flügel weilt“ – so war das, als 1989 irgendwie alle Menschen Brüder wurden, trunken vor Freude über die deutsche Einheit.

Als sich wenige Wochen nach dem Mauerfall Berlin West und Berlin Ost zum „Fußball-Familienfest“ im Olympiastadion trafen, waren, wie die Zeitungen schrieben, alle nur Gewinner. Hertha BSC gewann 2:1 gegen Union – und beide Mannschaften bekamen den Beifall der 50.000.

Fast genau 30 Jahre später führt die Wiederbegegnung in der Fußball-Bundesliga zu einem Ausnahmezustand ganz anderer Art. Aus den Fan-Blöcken fliegen Feuerwerksraketen aufs Spielfeld und in die Coaching-Zonen, der kluge Schiedsrichter Deniz Aytekin bricht das Spiel wohl vor allem deshalb nicht ab, weil die Lage dann vollends außer Kontrolle geraten wäre. Die Mannschaft von Union stellt sich nach dem Abpfiff mutig den vermummten Ultras des eigenen Lagers in den Weg – es war der einzige Lichtblick.

Wer Fußball liebt, will so etwas nicht sehen. Wer über Deutschland nach 30 Jahren nachdenkt, mag erschrecken. Wie typisch ist dieser Egotrip einiger Tausend Krawallbrüder, denen die Gesundheit der Spieler und der anderen Zuschauer wumpe ist? Wie viel Normalität steckt im Wutgeheul von Wochenendkriegern, die im Stadion die finale Trieb-Abfuhr suchen? Wie viel alltäglicher Frust, wie viel Unzufriedenheit und armselige Destruktivität steckt in der giftigen Atmosphäre an der Alten Försterei?

Wie viel hat Deutschland mit diesem Wahnsinn gemein?„Nun übertreiben Sie nicht“, werden Sie sagen. Sie haben recht. Man soll nie von Extremen auf das Ganze schließen. Der Fußball ist über alles gesehen eine ziemlich friedliche Massenveranstaltung, Deutschland entgegen anderslautenden Gerüchten keine Dschungelhölle.

Aber auffällig ist doch: Negatives hat Konjunktur. Warum eigentlich? Das Lamento über das Nichtklappende wird in Alltagsdiskussionen eilfertig geteilt. Zu den bemerkenswerten Phänomenen rund um die Große Koalition zum Beispiel zählt, dass sie selbst dann auf Gegenwind trifft, wenn tüchtige Minister wie Hubertus Heil und Jens Spahn machen, was alle fordern: problemlösende Politik. Wäre es nicht klüger, die Aufmerksamkeit aufs Produktive zu konzentrieren? Wer das Hickhack zwischen Maas und Kramp-Karrenbauer ignoriert, versäumt nichts.

Das Berliner Motto „Ick will mir ja ärgern“ soll hier nicht geächtet werden. Man lebt aber entschieden leichter, wenn man es mit der „hellen Seite“ hält, die Monty Python’s besangen. Beispiele für außerordentlich strahlende Seiten der Wirklichkeit gefällig? Die junge Firma „Formhand“, gestern ausgezeichnet mit dem Technologietransferpreis der Industrie- und Handelskammer ist eins. Geschäftsführer Christian Löchte und seine Mitstreiter, hervorgegangen aus der TU Braunschweig, haben ein Greifwerkzeug für die automatisierte Produktion erfunden und entwickelt. Damit lassen sich Werkstücke und Teile jeder beliebigen Form packen, rund oder eckig, ebenmäßig oder nicht. Das gab es bisher nicht. Von der Idee bis zur Unternehmensgründung vergingen acht lange Jahre. Die Jungunternehmer ließen sich nicht entmutigen, sie glaubten an ihre Idee, machten daraus ein Produkt, das große Industrieunternehmen interessiert. Zu Großvaters Zeiten hätte man ihnen zugerufen: „Ihr seid aus dem richtigen Holz!“

Oder das Team, das in weltrekordverdächtigem Tempo eine komplette Industrieproduktion auf die Beine gestellt hat – in Deutschland! Für die Halle 32a von VW Braunschweig, einen Baustein für die Auto-Arbeitsplätze der Zukunft, haben sich alle reingehängt. Die Stadt, die das Grundstück bereitstellte und die Genehmigungen rasch erteilte, die Architekten und Planer, die Baufirmen, die Maschinenbauer und die hochmotivierte Mannschaft, die sich gestern zum Start der Batteriesystemfertigung hinter ihrem Führungspersonal versammelte. Wenn man wirklich will, kann es also auch hier bei uns schnell gehen. „Das kann einem Hoffnung für den Industriestandort Deutschland geben“ kommentierte Komponente-Vorstand Thomas Schmall beim Rundgang.

Vieles in Deutschland scheint zäh geworden zu sein. Man kann sich ergeben, Frust schieben und Böller auf Menschen schießen. Oder man tut, was der Chef der Forschungsregion, Prof. Joachim Block, in seiner Festrede bei der IHK empfahl – und wehrt sich gegen Überregulierung, Ängstlichkeit und lebensfremden Perfektionismus. Wir haben viele Probleme, von Klimagasen bis zum Artenschwund, von sozialen Schieflagen bis zur Klagewut. Aber niemand rede sich darauf hinaus, dass wir nichts ändern könnten.

Der große Aufklärer Immanuel Kant schrieb: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Bei Andreas Renschler, dem Chef der Lkw-Sparte von VW, klang das diese Woche bei der Verleihung der Büssing-Preise an drei junge Wissenschaftler anders. Er meint dasselbe: Wenn wir unsere Probleme lösen wollen, brauchen wir ideologiefreie Diskussion und entschlossenes Handeln.

Nein, einfach ist das nicht. Niemand hat unsere inneren Widerstände schöner auf den Punkt gebracht als Karl Valentin: „Mögen hätt’ ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut!“

Das Wissen und das Können haben wir. Das Wollen und das Dürfen müssen wir wiederentdecken. Wenn wir weniger über unsere Ansprüche und weniger über die Barrieren nachdenken als über unseren eigenen Beitrag, dann werden unsere Kinder allen Grund haben, sich an Deutschland zu freuen.