„Es dient dem Frieden, wenn wir uns die Zeit nehmen, einander zu begegnen, zuzuhören, genau auf das hören, was andere Menschen zu sagen haben. „

Die Bibel bringt zur Sprache, worauf Menschen im Letzten vertrauen dürfen. Ihre Botschaft will Menschen einen Halt vermitteln, der in der Folge auch die Lebenshaltung und das Verhalten im Alltag prägt.

Martin Luther hat dieses Geschehen mit den Begriffen „Wort und Glaube“ zusammengefasst. Weil das Hören auf das gesprochene Wort in der Kirche eine so große Rolle spielt, ist sie immer auch so etwas wie eine Hörschule. Wer regelmäßig am kirchlichen Leben teilnimmt, lernt intensiv zuzuhören. Darin liegt für mich am diesjährigen Reformationstag eine wichtige Anregung für das friedliche Zusammenleben in unserem Land und zwischen den Völkern: Es dient dem Frieden, wenn wir uns immer wieder die Zeit nehmen, einander zu begegnen, einander zuzuhören, genau auf das hören, was andere Menschen zu sagen haben.

So bietet die Erinnerung an den Mauerfall vor 30 Jahren in der nächsten Woche Anlass, mit Menschen, die damals im jeweils anderen Teil Deutschlands lebten, ins Gespräch zu kommen. Was haben wir damals erlebt und was hat es für uns bedeutet? Wir könnten reden über das Glück der Grenzöffnung und die neuen Lebenschancen, die sich daraus ergaben; über die Kontinuität beruflicher Wege einerseits und den Abbruch von Lebensperspektiven andererseits; über die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf Menschen; über die enorme Anstrengung, die es bedeutet, sich auf völlig andere Verhältnisse einzustellen; über das Glück, in einem freien und demokratischen Land leben und es jederzeit für eine Reise verlassen zu dürfen. Vor allem können wir uns darüber austauschen, vor welchen Herausforderungen wir 30 Jahre nach der Öffnung der Mauer gemeinsam stehen und wie wir sie bewältigen können.

Einander hörend zu begegnen, wirkt der immer noch spürbaren Fremdheit zwischen ehemals Ost- und Westdeutschen entgegen. Auch bei einem anderen aktuellen Thema möchte ich dafür werben zuzuhören. Ende November wird die AfD ihren Bundesparteitag in Braunschweig abhalten. Führende Vertreter der Partei äußern sich zunehmend in einer Weise, die von völkischem Denken, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus geprägt ist. Dem gilt es klar entgegenzutreten, und dazu habe ich mich vor wenigen Tagen geäußert. Genau zuzuhören heißt nicht, alles hinzunehmen, zu akzeptieren oder zu entschuldigen. Es gibt Haltungen und Verhaltensweisen, denen wir klar widersprechen müssen. Das ist keine Frage.

Mir geht es an dieser Stelle jedoch um etwas anderes. Ich meine, wir sollten darüber hinaus genauer als bisher den Menschen zuhören, die eine Partei wie die AfD wählen. In diesem Zusammenhang muss man auf nationalistisches, völkisches, antisemitisches und rassistisches Gedankengut als Teil unseres kulturellen Erbes hinweisen, das bis heute die Kraft hat, Menschen zu beeinflussen und sich fragen, wie man dagegen vorgehen kann. Ich meine aber, das reicht nicht aus. Es geht aus meiner Sicht unterschwellig auch um wirtschaftliche Themen. Es geht um die Ausgestaltung der sozialen Marktwirtschaft im Verhältnis zwischen den Leistungsanforderungen an Arbeitnehmer und der sozialen Absicherung, auf die sie hoffen dürfen. Es geht um Fragen der sozialen Gerechtigkeit.

Hier haben sich in den vergangenen Jahrzehnten meiner Wahrnehmung nach die Gewichte zugunsten wirtschaftlicher Interessen verschoben. In der Folge verstärken sich Ängste vor dem Verlust von Einkommen und sozialem Status und damit die Bereitschaft zum Protest. Wenn das stimmt, wären Flüchtlinge und Migranten die Projektionsfläche für ungelöste gesamtgesellschaftliche Konflikte, die derzeit nicht in ausreichendem Maße bearbeitet werden.

Die seit Jahrzehnten zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Großbritannien und die politischen Folgen, die sich daraus in den letzten Jahren ergeben haben, sind ein warnendes Beispiel dafür, was geschieht, wenn es nicht gelingt, soziale Fragen angemessen im Dialog und im Respekt vor unterschiedlichen Positionen zu lösen.

Ich werbe dafür, in diesem Zusammenhang im privaten Gespräch, aber auch in der öffentlichen Debatte unterschiedlichen Positionen zuzuhören und dabei für die Dimension menschlicher Beziehungen sensibel zu sein. Unterschwellig transportiert jede Debatte immer auch bestimmte Beziehungsdefinitionen und Menschenbilder. In welcher Haltung begegnen wir einander? Und was löst das im jeweils anderen aus? Sehen wir im anderen die Bürgerin, den Marktteilnehmer, den Konkurrenten, die Siegerin, den Verlierer, die Human-Ressource?

Aus Sicht des christlichen Glaubens wäre es wichtig, in ihm den von Gott geliebten Menschen zu sehen und den Nächsten, dem meine Zuwendung gelten soll. Intensiv zuhören und versuchen, den anderen zu verstehen, darin liegt für mich der Schlüssel zum Frieden – auch im Äußeren. Je weniger Menschen verschiedener Länder voneinander wissen, je weniger sie einander begegnen, desto mehr werden Wissenslücken durch Vorurteile gefüllt. Hier ist in den letzten Jahrzehnten viel geschehen durch den internationalen Jugendaustausch.

Wer einige Monate oder sogar ein Jahr lang als junger Mensch in einem fremden Land lebt, der lernt eine andere Kultur von innen kennen und begreift, dass Menschen die Welt auch mit ganz anderen Augen sehen können. Er versteht, wie stark das jeweilige Umfeld einzelne Menschen prägt und wie schwer es ist, über Kulturgrenzen hinweg zu kommunizieren. Möglichst vielen Schülern, Auszubildenden und Studierenden solche Erfahrungen zu ermöglichen, stärkt die Friedensfähigkeit in unserem Land.

Martin Luther und seine Mitstreiter reformierten die Kirche, indem sie intensiv auf die Botschaft der Bibel von der Liebe Gottes zu uns Menschen hörten. Der Reformationstag lädt dazu ein, diese Kunst des Hörens als kulturelle Errungenschaft zu würdigen und für die Bewältigung unserer Herausforderungen zu nutzen.