Diess und Pötsch prägen Volkswagen. Die Handlungsfähigkeit könnte unter der Anklage erheblich leiden.

Kein anderes Wirtschaftsverfahren in Deutschland wird mit vergleichbarer Spannung verfolgt: Dass der amtierende VW-Vorstandsvorsitzende Herbert Diess, sein Vor-Vorgänger Martin Winterkorn und der amtierende Aufsichtsratsvorsitzende Hans Dieter Pötsch unter Anklage gestellt werden könnten, ist ein Vorgang, der in der deutschen Wirtschaftsgeschichte seinesgleichen sucht. Bis zuletzt blieb offen, ob es so weit kommt.

Nun ist es heraus. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig beschuldigt die drei Spitzenmanager, die Kapitalmärkte zu spät über die milliardenschweren Folgen des Diesel-Skandals informiert und so den Börsenkurs beeinflusst zu haben. Ob sich die Staatsanwaltschaft damit bei Gericht durchsetzt, wird das Verfahren zeigen. Die Beschuldigten bestreiten, dass das Ausmaß des Risikos erkennbar gewesen sei.

Fest steht bisher lediglich, dass der sich abzeichnende Prozess beim weltgrößten Autobauer Sprengkraft entwickeln könnte. Diess und Pötsch sind Persönlichkeiten, die Volkswagen prägen. Der eine als harter Treiber des Sanierungs- und Umbauprozesses, der sich auf Elektromobilität und Digitalisierung reimt. Der andere als Versöhner der unterschiedlichen Interessen von Gesellschaftern, Management und Betriebsrat.

Gegenwärtig spricht viel dafür, dass beide im Amt bleiben. Denn bisher ist nicht erkennbar, dass die Ermittlungen Tatsachen zutage gefördert hätten, die über die Erträge der eigenen Aufklärungsarbeit von VW hinausgehen. Die rasche Reaktion des Präsidiums des Aufsichtsrates stützt diese Annahme. Sollten aber Diess und Pötsch ihre Rollen zumindest vorübergehend nicht spielen können, käme die Handlungsfähigkeit des Konzerns in einer kritischen Phase unter Druck.

Zur Folgenabschätzung muss man wissen, dass der unternehmerische Kurs auf breiter Basis steht. Niemand stellt die Elektromobilität grundsätzlich infrage; der Start der Pilotanlage zur Batteriezellenfertigung in Salzgitter war am Dienstag ein weiteres Signal, dass Volkswagen seine Strategie auf ganzer Breite umsetzen will. Auch die Reihen derer, die hinter Diess und Pötsch stehen, sind gut besetzt und dicht geschlossen. Namen wie der des VW-Steuerers Ralf Brandstätter, der Konzernvorstände Frank Witter, Oliver Blume, Andreas Renschler oder Gunnar Kilian und nicht zuletzt der des Betriebsratsvorsitzenden Bernd Osterloh stehen für Stabilität und Kontinuität. Der Einfluss des Landes Niedersachsen ist ebenfalls eine verlässliche Größe. Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU) wissen, welche Bedeutung der Industriegigant aus Wolfsburg für Niedersachsens Wohlstand hat.

Nach allem, was absehbar ist, dürfte Volkswagen also auf Kurs bleiben. Dessen ungeachtet würde eine Verurteilung den Anlegerklagen starken Rückenwind geben; Rückwirkungen auf das Monitoring-Verfahren der US-Justizbehörden wären nicht auszuschließen. Hier werden Milliardenrisiken sichtbar. Daimler ist in seinem Teil des Diesel-Skandals mit einer Geldbuße von 870 Millionen Euro gestern noch günstig weggekommen.

Deutlich zu unterscheiden ist unterdessen zwischen Anklage und erwiesener Schuld. Man muss angesichts einer aufgeheizten öffentlichen Diskussion darauf hinweisen: Im rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren gilt für jeden Angeklagten zunächst die Unschuldsvermutung.

Die Prominenz des Verfahrens setzte die Staatsanwaltschaft Braunschweig unter Druck. Einerseits die Furcht vor Schäden an Industriestruktur und Arbeitsplätzen, andererseits der Generalverdacht, die Justiz lasse die großen Tiere ja doch ungeschoren – die Ankläger scheinen von beidem weitgehend unbeeindruckt geblieben zu sein. Mangelnder Eifer kann ihnen nicht nachgesagt werden, zugleich haben die Beschuldigten allen Grund, im Falle der Anklageerhebung auf ein faires Verfahren zu vertrauen.

Rechtsfindung braucht Zeit. Dennoch: Im Sinne der Beschuldigten und möglichen Geschädigten, aber auch Volkswagens und seiner über 600.000 Beschäftigten ist dem Verfahren nicht nur Gründlichkeit, sondern auch zügige Abwicklung zu wünschen. Die problematische Länge des Ermittlungsverfahrens nährt Befürchtungen, dass auch der Prozess alle Beteiligten auf eine harte Probe stellen könnte.