Salzgitter. Bernd Lucke gründete einst die AfD, bis er fortgejagt wurde. Mit seiner neuen Partei will er bei der Europawahl CDU-Wähler locken.

Bernd Lucke fährt gerne mit der Deutschen Bahn. Er schimpfe nicht auf sie, sondern nutze die Züge, um zu arbeiten, sagt er. An diesem morgen ist der Mann, der einst die AfD mitgründete, um 6.40 Uhr in Winsen/Luhe gestartet. Um kurz vor 10 Uhr kommt er in Salzgitter-Fredenberg an. Hier nimmt er an einer Podiumsdiskussion mit Berufsschülern zur Europawahl teil. Es ist einer von rund 50 Terminen, die Lucke im Wahlkampf bestreiten wird. Lucke ist Spitzenkandidat der Liberal-Konservativen Reformer (LKR), die etwa 1000 Mitglieder zählt. Der aktuell beurlaubte Professor für Makroökonomie an der Universität Hamburg ist seit November 2018 LKR-Bundesvorsitzender und sitzt im Europäischen Parlament. Im Interview sprach er über sein Bild von Europa, die Hilfe für Griechenland und die Entwicklung der AfD.

Welche Gruppen wollen Sie mit ihrer Partei bei der Europawahl für sich gewinnen?

Wir wollen das bürgerliche Lager ansprechen. Menschen, die von FDP und CDU enttäuscht sind. Auch die, die aus lauter Frustration sonst AfD wählen würden. Wobei ich ziemlich sicher bin, dass ich den harten, rechten Kern dieser Partei nicht überzeugen kann. Wir wollen das auch nicht. Es ist nicht unser Politikansatz, sich ausschließlich auf die Themen Islam, Flüchtlinge und Migration zu fokussieren.

Die CDU besinnt sich nicht zuletzt mit der Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer, aber auch mit der Personalie Merz verstärkt auf ihre konservativen Werte. Haben Sie keine Angst, dass Sie da erfolglos im Trüben fischen werden?

Das sehe ich ganz und gar nicht. Was macht denn Merz? Wo hat denn Frau Kramp-Karrenbauer den Kurs korrigiert? Wodurch zeigt die Regierung, dass sie aus den politischen Fehlern der Vergangenheit gelernt hat? Dass sich konkret etwas ändert, sehe ich weder bei europapolitischen Fragen wie der Währungsunion oder der Flüchtlingspolitik, noch bei den spezifisch deutschen Problemen.

Welche meinen Sie da?

Die Schulbildung wird immer schlechter und die Finanzierung der Altersvorsorge ist so schwierig, dass viele Menschen Altersarmut befürchten müssen. Bei Verkehrswegen und Telekommunikation offenbart unsere Infrastruktur große Mängel, die wir beheben müssen. All das sind klassische Felder der CDU, auf denen sie sich einst profiliert hat und die sie schon lange vernachlässigt. Hier sehe ich Potenzial für unsere Partei.

Sie haben in der Euro-Krise das Halten Griechenlands innerhalb der Euro-Zone scharf kritisiert. Wie ist ihr Bild von Europa im Jahr 2019? In welchem Europa wollen Sie künftig leben?

Ich will in einem Europa der Freiwilligkeit leben. Ich will die EU nicht als Zwangskorsett für Staaten, die sich Regeln unterwerfen müssen, obwohl sie inhaltlich dagegen sind. Meines Erachtens soll die EU ein Staatenverbund sein, der jedem Mitglied Angebote macht, bei denen man mitmachen kann - oder auch nicht. Wenn man mitmacht, muss man sich natürlich an die Vereinbarungen halten, die man getroffen hat. Will man das nicht, wirkt man eben an diesem spezifischen Projekt, also zum Beispiel am Euro, an der Bankenunion oder am Schengen-Raum, nicht mit. Das heißt nicht, dass man die EU verlassen soll. Aber wenn derzeit Frankreich, Italien und Griechenland viel höhere Schulden haben als zulässig, dann muss man doch fragen, was sie in der Eurozone zu suchen haben. Ich halte es für den falschen Weg, vertragsbrüchigen Ländern Milliardensummen zu geben, um sie im Euroraum zu halten.

Griechenland kommt aus einem fast Bankrott, hat jetzt aber seit einiger Zeit Wachstum. Der Weg von Athen wird in Brüssel gelobt. Ist das nicht etwas, was Ihnen auch Respekt abverlangt?

Überhaupt nicht, das ist reine Propaganda aus Brüssel. Griechenland hat durch die angebliche Rettungspolitik ein Viertel seines gesamten Einkommens verloren, also 25 Prozent. In den letzten beiden Jahren hat es ein Wachstum von jeweils einem Prozent pro Jahr gegeben. Das ist deprimierend wenig, denn jetzt beträgt der Einkommensverlust ja immer noch 23 Prozent. Normalerweise hat man nach einem schweren Wirtschaftseinbruch einige Jahre lang sehr starkes Wachstum, aber das hier ist fast unterhalb der Wahrnehmungsgrenze. Wenn es so weitergeht, dauert es Jahrzehnte, bis die Griechen auch nur das Niveau von vor der Krise erreicht haben.

Das mit der Freiwilligkeit ist ja so eine Sache. Den Griechen, so verstehe ich Sie, würde es außerhalb des Euroraums besser gehen. Die Engländer haben sich für den Brexit entschieden. Was sagen Sie dazu?

Ich bin dafür, dass Griechenland den Euro verlässt, aber nicht die EU. Das Verlassen der EU ist eine idiotische Idee und der Brexit eine unbedachte Entscheidung. Natürlich ist die EU-Mitgliedschaft freiwillig, aber ich bin mir sicher, dass die meisten Briten beim Referendum wenig über die Konsequenzen wussten. Der EU-Binnenmarkt hat große Vorteile für alle Mitglieder. Das ist unbestritten. Ich wünsche mir sogar, dass man noch einen Schritt weitergeht: Alle, die zu diesem Binnenmarkt gehören wollen, sollten daran teilhaben und an der Gesetzgebung mitwirken dürfen. Auch Länder wie Island, Norwegen oder die Schweiz. Aber wer beim Binnenmarkt mitmacht, muss nicht unbedingt auch bei allen anderen EU-Initiativen mitwirken. Deutschland will zum Beispiel viel beim Klimaschutz machen und Rumänien und Bulgarien wollen nicht so viel. Da müssen sie uns doch nicht bremsen. Lassen wir diese Länder doch erst ökonomisch stärker werden, und sobald sie wollen, können sie sich ja gerne auch beim Klimaschutz beteiligen.

Also für Sie unterliegt die europäische Idee weiterhin dem Diktat der Finanz- und Wirtschaftspolitik?

Nein, so reden die Linken. Ich sehe das so: Der Binnenmarkt ist zweckmäßig und dient unser aller Wohlstand. Dafür brauchen wir einige allgemeingültige Regeln. Anders verhält es sich mit Grundwerten der EU. Die kann man nicht per Gesetz verordnen, weil jeder Staat da sein eigenes Verständnis hat. Menschlichkeit als Grundwert zum Beispiel wird in Westeuropa so verstanden, dass wir Flüchtlinge bei uns aufnehmen. In Osteuropa sagt man, wir wollen die Flüchtlinge nicht bei uns haben, aber wir helfen gerne in den Kriegsgebieten und in den Flüchtlingslagern vor Ort. Das ist ein anderes Verständnis von Menschlichkeit. Da hilft es überhaupt nichts, die Polen öffentlich abzuwatschen. Vielmehr kann die EU nur dann eine Spaltung vermeiden, wenn sie akzeptiert, dass jedes Land seine eigenen Vorstellungen verfolgen kann, denn die sind ja jeweils durch Wahlen demokratisch legitimiert. Und Demokratie ist auch ein Grundwert der EU.

Würden Sie Manfred Weber, den Spitzenkandidaten der konservativen EVP, zum EU-Kommissionspräsidenten wählen?

Die LKR ist Mitglied der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer und unser Spitzenkandidat ist der Tscheche Jan Zahradil. Der steht so wie wir für mehr Freiwilligkeit, weniger Bürokratie und weniger Zentralismus. Webers Positionen stehe ich teilweise sehr skeptisch gegenüber. Er will zum Beispiel das Projekt Nord Stream 2 bekämpfen, sollte er ins Amt gewählt werden. Ich halte das für falsch. Die Ostseepipeline, die zusammen mit Russland gebaut wird, ist im deutschen Interesse. Da bin ich sogar mal voll auf der Linie von Bundeskanzlerin Merkel.

Hat die EU-Erweiterung die Handlungsfähigkeit eingeschränkt?

Definitiv. Durch die unterschiedlichen Institutionen und Traditionen ist es sehr schwer, ein Gesetz zu machen, das allen 28 Mitgliedsstaaten gerecht wird. Deshalb ist die europäische Gesetzgebung viel schwieriger als deutsche Gesetzgebung. Das führt dazu, dass manche wichtigen Gesetze einfach schlecht sind. In der Anwendung funktioniert vieles nicht, weil zu viele Ausnahmeregelungen und Schlupflöcher eingebaut wurden.

Sind Sie ein Befürworter, dass das Einstimmigkeitsprinzip fällt?

Das Einstimmigkeitsprinzip ist in den meisten Bereichen schon abgeschafft und das war im Nachhinein keine gute Idee. Denn wenn Staaten überstimmt werden, müssen sie Dinge gegen ihren Willen machen, und das widerspricht meiner Vorstellung von einer EU der Freiwilligkeit. Der Brexit geht übrigens auf die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips zurück. Großbritannien ist nicht im Euro und als die Eurozone während der Krise jede Menge Finanzmarktregulierung beschloss, fühlten die Briten sich übergangen. Denn der zentrale europäische Finanzplatz ist London und die Briten fragten, warum ihre wichtigste Industrie nun reguliert wurde, um eine Währung zu retten, die sie gar nicht hatten und nie haben wollten. Sie sahen, dass dem Finanzplatz London geschadet wurde, ohne dass sie einen Nutzen davon hatten und ohne dass sie etwas dagegen tun konnten.

Ist der Brexit nur der Anfang einer Austrittswelle?

Nicht unbedingt, aber Spaltungen und Lähmungen der EU sind zu befürchten, wenn zum Beispiel die westeuropäische Mehrheit der EU die osteuropäischen Staaten bei der Zuweisung von Flüchtlingen überstimmt. Das werden sich die Osteuropäer nicht bieten lassen. Dann haben wir den nächsten Verfassungskonflikt und vielleicht droht dann auch ein Austritt aus der Union. Ich kann nur hoffen, dass Brüssel nach den Brexit-Erfahrungen hier vorsichtiger geworden ist.

Die AfD hat einen Schwenk nach ganz Rechtsaußen gemacht. Sind Sie sich irgendeiner Schuld bewusst, dass die Partei, die sie einst gründeten, diesen Weg nun beschritten hat?

Nein, im Gegenteil, ich habe nach Kräften dagegen gekämpft, dass die AfD nach rechts rutscht. Anders als Gauland und Petry, die das befördert haben. Das war ja auch der Grund, weshalb ich gestürzt wurde. Der Lucke mit seinen ständigen Abgrenzungen nach rechts – das wollte die Partei schließlich nicht mehr. Eine Partei ist nie eine Veranstaltung einer einzelnen Person. Man hat die Partei nur solange unter Kontrolle, wie man die Mehrheit der Partei hinter sich hat. Denn jede Partei muss demokratisch organisiert sein. Das gibt das Parteiengesetz vor. Ich hatte Rote Linien nach rechts gesetzt. Dafür habe ich keine Mehrheit mehr bekommen. Statt dessen wurde Frauke Petry gewählt, die die AfD in die Umarmung des französischen Front National von Marine Le Pen und des Niederländers Geert Wilders geführt hat. Deshalb verstehe ich auch nicht, warum Frauke Petry die AfD später verlassen hat. Sie hatte doch gerade erst einen Wahlkampf nach ihren Vorstellungen geführt. Sie hat auch nie gesagt, mit welchen Positionen der AfD sie fremdelt. Als ich ging, habe ich klar gesagt, dass ich die latente Fremden- und Islamfeindlichkeit nicht mittragen kann. Petry hat nichts dergleichen gesagt – da muss etwas Persönliches vorgefallen sein.

Die AfD gilt als „Prüffall“, wogegen sich ihre Führungskräfte wie Alexander Gauland vehement wehren. Ist die Einschätzung des Verfassungsschutzes richtig?

Ich finde es richtig, dass der Verfassungsschutz prüft. Ich bin sehr für eine wehrhafte Demokratie und da manche Leute in der AfD Grundrechte wie die Religionsfreiheit in Frage stellen, sollte man das beobachten.

Fakten zum Leserforum am 8. Mai:

Wie wirkt sich Europa auf unser Leben aus? Am Mittwoch, 8. Mai, 19.30 Uhr, findet im BZV Medienhaus in Braunschweig unser Leserforum zur Europawahl in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Abt Jerusalem statt. Auf dem Podium diskutieren Christian Wulff, Bundespräsident a. D., der Europa-Abgeordnete Bernd Lange (SPD) und Prof. Anja P. Jakobi von der TU Braunschweig. Es moderieren Braunschweigs Landesbischof Christoph Meyns und Chefredakteur Armin Maus.

So sind Sie dabei: Melden Sie sich bis Montag, 6. Mai, 12 Uhr, mit Ihrem Namen, Ihrer Telefonnummer und vollständiger Adresse per Mail an leserforum@bzv.de an. Bitte geben Sie die Zahl der Plätze an. Falls es mehr Anmeldungen als Plätze geben sollte, werden diese nach Anmeldezeitpunkt vergeben. Dann werden die Teilnehmer per E-Mail benachrichtigt.