Leipzig. Der Ärzte-Schlagzeuger schreibt über traurig-schräge Gestalten in einem fiktiven Brandenburger Dorf.

Neben den eingefleischten Lesern, Politikinteressierten, Bloggern und Mangafreunden werden in diesem Jahr wohl auch Musikfans zur Leipziger Buchmesse (21. bis 24. März) strömen. Gleich zwei Rockstars haben sich als Schriftsteller versucht und stellen ihre Bücher vor – eine gute Gelegenheit, sie viel näher als sonst auf großen Bühnen bei Konzerten zu sehen.

Dirk von Lowtzow von der Band Tocotronic veröffentlichte mit „Aus dem Dachsbau“ ein autobiografisches Werk. Auf etwas Ähnliches hat vielleicht auch der Verlag von Die-Ärzte-Schlagzeuger Bela B gehofft, doch der 56-jährige Punkrocker hatte anderes vor, und so entstand aus Kurzgeschichten zusammengefügt – wie man deutlich merkt – der Trashroman „Scharnow“.

Die Medienwelle, auf der das Buch reitet, generiert sich aus der Bekanntheit des Autors. Die hat er ausgenutzt und nicht etwa etwas Gefälliges geschrieben, sondern seine Leidenschaft für menschliche Abgründe und das Absurde auf Papier gebannt.

Schauplatz ist die titelgebende Stadt Scharnow, ein fiktives Dorf in Brandenburg. Dort tummeln sich Kalle, Niels, Pit und Sieben, die den „Pakt der Glücklichen“ bilden. „Sauberkeit wird überschätzt“, heißt es in ihrem Manifest, und so mauern sie die Küche lieber zu, als der Hygienestatus dort fragwürdig wird. Zur Alkohol- und Snackversorgung pilgern sie zum einzigen Supermarkt des Dorfes, dem „Billkauf“, und werden von Kassiererin Sylvia bedient, deren Haustiere ins Visier des „Bundes skeptischer Bürger“ geraten. Der hat sich aus einer ungesunden Mischung aus Verschwörungstheoretikern und Waffennarren gebildet. Eine zarte Romanze entspannt sich zwischen dem syrischen Flüchtling Hamid und dem Mangamädchen Nami, die sich um ihr „Omili“ kümmert. Ein fliegender Mann schwirrt neben mordenden Büchern durch die Seiten, und mit einer Braunschweiger Realschule entsteht überraschend regionaler Bezug, der jedoch nicht weiter vertieft wird.

Viele Scharnower leben in Tristesse – so besteht Sylvias Leben „aus vielen kleinen Toden – damit hatte sie sich abzufinden“. Erwachsene Männer haben die letzte liebevolle Berührung in ihrem „dritten Lebensjahr“ gespürt, sie reagieren aggressiv und empfinden das als Schlagfertigkeit. Hier greift Bela B Ärzte-Lieder wie „Schrei nach Liebe“ auf, in dem es heißt „Deine Eltern hatten niemals für dich Zeit“ oder „Weil du Probleme hast, die keinen interessieren“. Hier klingt auch deutlich eine Trübheit von Ostdeutschen durch, die sich abgehängt fühlen.

Als aufrüttelndes Element baut Bela B männliche Nacktheit ein, wohl auch als Gegengewicht zur etwa in der Werbung vorherrschenden weiblichen. In „Scharnow“ wird mit Handykameras auf „baumelnde Genitalien“ gezoomt und der Buchblogger Horst Wassmann betrachtet post-orgastisch seine „Sperma-Stalaktiten“. Für Wassmann ist Sexualität eine einsame Sache, gesteuert von Pornografie.

Die belebt auch den Alltag vom „Pakt der Glücklichen“. Die Männergruppe, deren „Treibstoff“ Alkohol ist, findet vollgetankt abendlich Erfüllung in dem gemeinsamen Schauen von Filmen wie „Porno Holocaust“, in dem „Untote lebende Frauen vergewaltigten, um sie sich danach häppchenweise einzuverleiben.“ Den Film hat sich Bela B nicht ausgedacht, er ist 1981 real erschienen. „Ein Prachtfilm der besonders widerwärtigen Sorte“, so der Erzähler.

Horror-Pornografie, Kannibalenfilme, Splatter, das ist eine Nische, die eine Grenze hat, dass der Inhalt nur Fiktion ist. Doch über diese Grenze springt der Autor, und zwar mit Anlauf zu den Schlagerklängen von Rex Gildo. Ein Höhepunkt des Buches ist die Szene, als Protagonist Sieben einen sogenannten „Snuff“-Film entdeckt, der echten Mord zeigt. Die meisten Menschen schlafen ruhiger, wenn sie nicht von der Existenz solcher Filme wissen. Bela B aalt sich jedoch darin, wenn Sieben das Herz bis zum Hals klopft und er realisiert, „dass er danach süchtig war“. Ist das eine Selbstoffenbarung des Autors? Gar eine Empfehlung? An dieser Stelle fühlt man sich mit seinem Entsetzen alleine gelassen.

Während Bela B viele aktuelle Themen wie die Kluft zwischen Privat- und Pflichtversicherten, Flüchtlinge, Verschwörungstheorien, Leute, die Obdachlose anzünden, Rechtsradikalismus und Pädophilie aufgreift, bleiben als Kern des Buches die heftigen Filme. Findet der Leser hier doch Autobiografisches in dem Buch, das Bela B „meiner Jugend in Spandau“ widmet? Horror ist jedenfalls ein Hobby des Schlagzeugers, der mit seinem Künstlernamen Bezug auf Dracula-Darsteller Bela Lugosi nimmt.

Nicht zu wissen, was gnadenlos überzogen ist und was Offenlegung eines verstörenden Hobbys des Autors, von dieser Spannung lebt das Buch – wenn Leser den Grenzverstoß ertragen. Bela B bietet jedoch auch genug Verrücktheiten an, dass man über die widerwärtigen Stellen huschen und den gesamten Inhalt als aberwitzig und überdreht abtun kann. Dazu trägt das Übermaß bei: Die Vielzahl an Themen, alle nur knapp beleuchtet. Jedem anderen Buch hätte es gut getan, sich auf eins zu konzentrieren, aber hier ist Bela B immerhin konsequent: Er vermengt einen Strudel an Themen mit einem Haufen Personen und lässt sie ein Chaos an Ereignissen durchleben. Die Handlungsstränge sind allerdings so grob zusammengenäht wie Frankensteins Körperteile.

Die Sprache ist schlicht, was erleichternd ist angesichts des überbordenden Inhalts. Immer wieder finden sich Anleihen an Songs der Ärzte. „Er wollte verstehen, aber er wusste nicht, wie“ schreibt Bela B über den fliegenden Mann. Die Satzmelodie ist dem Ärzte-Fan vertraut aus dem Song „Wie es geht“: „Ich muß es sagen, ich weiß nur noch nicht, wie.“

Trostlosigkeit und Erregungssuche der Protagonisten machen traurig und lassen einen in sich hinein horchen: Was steckt von mir selbst in den Personen? An welchem Punkt gleiten Menschen ab? Das hält aber nicht lange genug an, wenn das Buch in Richtung Seelenwanderung und anderer Science-Fiction-Themen abdriftet. Am Ende landet man wie Protagonist Niels unweigerlich und erschöpft bei der Erkenntnis: „Totaler Hirnfick“.