Braunschweig. Michael Roth ist Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt. Er stellte sich den Fragen unserer Leser im Vorfeld der Europawahl im Mai.

Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, stellte sich den Fragen unserer Leser. Für ihn bleibt die EU die Lebensversicherung in Krisenzeiten.

Lars Büchner: Gibt es in Großbritannien die Chance auf ein zweites Brexit-Referendum?

Michael Roth: Der Brexit ist eine Tragödie. Er hat mich und die ganze Bundesregierung viel Zeit und Energie gekostet. All das hätte ich gerne in etwas Sinnvolleres investiert. Im Gegensatz zum Privatleben kennt die EU eigentlich keine Scheidung. Mit dem Austrittsabkommen liegt aber ein Scheidungsvertrag auf dem Tisch, er findet im britischen Parlament nur keine Mehrheit. Ob es eine Mehrheit für ein zweites Referendum gibt, das weiß ich nicht. Ich habe es aufgegeben, zu spekulieren. Das Thema wird in Großbritannien von innenpolitischen Themen überlagert. Viele dort wollen, dass Premierministerin Theresa May scheitert. Es gibt viele, viele Fragezeichen. Ich persönlich hoffe immer noch, dass die Briten in der EU bleiben.

Büchner: Die zwei dominierenden Parteien in Britannien, die Torys und die Labour-Partei, sind in der Brexit-Frage jeweils tief gespalten. Droht das Parteiensystem dort zu zerfallen?

Das Mehrheitswahlrecht in Großbritannien hemmt das. Das führt zwangsläufig dazu, dass Sie zwei große Parteien haben, die Konservativen und die Sozialdemokraten. Parteienzersplitterung erleben wir derzeit überall. Da haben Sie Recht.

Reiner Storde: Bisher wurde das Europaparlament nicht demokratisch gewählt, sondern nach einem Klassenwahlrecht, bei dem Deutschland in der untersten Klasse residierte. Das heißt: Nicht jede Stimme eines Europäers zählte gleich viel. Konnte das nun endlich geändert werden?

Es gibt kein Klassenwahlrecht. Aber in der Tat gibt es eine unterschiedliche Gewichtung der Stimmen. Das hat mit dem Aufbau der EU zu tun. Jedes Land hat eine Mindestabsicherung an Abgeordneten. Das führt dazu, dass das kleine Luxemburg mit seinen 700.000 Einwohnern sechs Abgeordnete hat, Deutschland mit 82 Millionen Einwohnern 96 Abgeordnete. Das führt in gewisser Weise zu einer Verzerrung. Das ist aber in Deutschland ähnlich. Bei uns gibt es unterschiedlich große Wahlkreise. Das gefährdet aber nicht die demokratische Legitimität der Parlamente. Ein Wähler, eine Wählerin hat eine Stimme. Neben dem Europäischen Parlament haben wir zudem noch den Rat als Entscheidungsorgan. Hier hat Deutschland als großes Land mehr Gewicht.

Edmund Heide: Die Wahlbeteiligung bei Europawahlen ist meist gering. Bei dieser Wahl im Mai steht viel auf dem Spiel. Wie können die Menschen für die Europawahl mobilisiert werden?

Wir haben die vergangenen Europawahlkämpfe oft mit Volkshochschulkursen verwechselt, wollten Europa erklären. Wir brauchen mehr Streit um Positionen und Personen. Die Parteien haben unterschiedliche Auffassungen, etwa beim Klimaschutz, bei Mindestlöhnen oder der sozialen Grundsicherung. Wir dürfen die Auseinandersetzung um Inhalte nicht den Europa-Skeptikern überlassen.

Büchner: Bundestagspräsident Schäuble sprach sich dafür aus, das Prinzip der Einstimmigkeit bei EU-Entscheidungen abzuschaffen. Was halten Sie davon?

Hier ist ein Vergleich mit unserem Föderalismus hilfreich. Im föderalen Deutschland sind wir bei Entscheidungen nicht besonders schnell. Beim Digitalpakt an den Schulen etwa haben Bund und Länder monatelang gestritten. Es ging darum, ob der Bund den Schulen trotz der Bildungshoheit der Länder fünf Milliarden Euro zur Verfügung stellen darf. In Brüssel sind die Prozesse noch einmal schwieriger. Wir haben mal mit sechs Mitgliedsländern angefangen, nun sind es 28. Damals war das Konsensprinzip angebracht. Heute müssen wir auch andere Entscheidungswege finden. Es gibt auch heute schon Mehrheitsentscheidungen. Bei der Steuer- oder der Außen- und Sicherheitspolitik hingegen stimmen wir im Rat, also dem Vertretungsorgan der Mitgliedsstaaten, einstimmig ab. Das ist nicht gut. Damit wir nicht auf der Stelle treten, hat Deutschland vorgeschlagen, in mehr Bereichen Mehrheitsentscheidungen zuzulassen.

Büchner: Gibt es dann nicht auch Schattenseiten?

Es kann sein, dass Deutschland mal überstimmt wird. Ich kann damit leben, so ist Demokratie.

Heide: Bis auf die AfD gibt es einen Pakt der Parteien und Gewerkschaften in Deutschland vor der Wahl, um zum Urnen-Gang zu animieren. Was haben die vor?

Wichtig sind Gesichter. Die haben wir. Manfred Weber etwa ist nicht nur Spitzenkandidat der CDU und CSU in Deutschland, sondern auch für die Europäische Volkspartei, also die konservative Parteienfamilie. Auf der Seite der Sozialdemokraten haben wir Frans Timmermans. Der kommt zwar aus den Niederlanden, spricht aber fließend Deutsch, kann auch auf dem Marktplatz in Braunschweig auf die Bürgerinnen und Bürger zugehen. Wir brauchen kontroverse Themen und Parteien, die den Wahlkampf nicht auf Sparflamme fahren. Früher waren Europawahlen nationale Testwahlen. Die Parteien haben nur wenig Zeit und kaum Geld in den Wahlkampf gesteckt. Das ändert sich gerade.

Heide: Berichten Medien genug?

Ja, die Aufmerksamkeit ist größer als früher. Wir entscheiden im Mai über die Zukunft Europas. Es geht um die Frage, ob wir Europa den Nationalisten und Populisten überlassen wollen. Diese wollen Europa rückabwickeln. Das führt zu einer allgemeinen Wachsamkeit. Ich hoffe auf eine höhere Wahlbeteiligung.

Storde: In meinem Umfeld gibt es eine tief verwurzelte Skepsis gegenüber der EU. Die in Brüssel beschäftigen sich mit der Krümmung der Banane, heißt es dann. Ich erinnere mich an die Einführung des Euro. Warum hat man nicht zuerst einen europäischen Wirtschaftsraum geschaffen und dann den Euro eingeführt?

Ich teile Ihre Skepsis. Die EU muss weiterentwickelt werden, muss noch besser werden. Zurzeit sprechen wir nicht oft genug mit einer Stimme gegenüber den USA, Russland oder China. Wir erreichen keine ambitionierte Lösung bei der Migrationspolitik. In kleinteiligen Fragen sind wir hingegen manchmal zu schnell bei einer Lösung, zum Beispiel beim Meisterbrief. Der sollte in bestimmten Handwerksbereichen in Deutschland auf einmal nicht mehr Grundlage sein. Das verschafft den Eindruck: Ihr kümmert euch nicht um die großen Sachen, wollt aber den Meisterbrief infrage stellen. Mir ist wichtig: Die EU macht das nicht, um die Menschen zu ärgern. Die Sache mit dem Meisterbrief hat mit dem gemeinsamen Binnenmarkt zu tun. Aber richtig ist: Die EU muss dazulernen.

Storde: Und die Einführung des Euro?

Wir wollen eine gemeinsame Währung und auch eine gemeinsame Wirtschaftsunion. Da sind wir steckengeblieben. 19 Staaten haben den Euro, aber wir haben keine richtige Wirtschafts-Koordination. Wir haben bei der Finanzkrise gemerkt, dass es der EU nicht gut tut, wenn wir zu starke wirtschaftliche und soziale Ungleichgewichte in einer gemeinsamen Währungszone haben. Deshalb fordern Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und andere, darunter auch ich, dass wir unsere Wirtschafts-, Sozial- und Beschäftigungspolitik verbindlicher koordinieren, damit wir uns mehr angleichen. Es geht aber nicht darum, dass wir einförmig werden. Europa beruht auf Vielfältigkeit.

Büchner: Wir brauchen aber Mindeststandards, oder?

So ist es. Wir müssen das Steuerdumping angehen. Es kann nicht sein, dass manche Staaten acht Prozent Steuern verlangen, andere aber 25 Prozent. So können sie gegeneinander ausgespielt werden. Wir brauchen einheitlichere Umweltstandards und eine soziale Grundsicherung in allen Staaten, Mindestlohn-Regelungen. In der EU zählen nicht nur die Wirtschaft und die Konzerne, sondern auch das Sozialstaats- und Wohlstandsversprechen. Das Bewusstsein dafür kam spät und wird in diesem Wahlkampf eine größere Rolle spielen.

Heide: Jeder Student oder Schüler, der schon einmal eine gewisse Zeit im Ausland verbracht hat, steht Europa positiv gegenüber. Sollte man das nicht ausdehnen?

Wer einmal in einem anderen Land gelebt, geliebt oder studiert hat, der kommt mit guten Erfahrungen zurück. Und nicht mit Hass oder Angst. Das Erasmus-Programm ist eine große Erfolgsgeschichte, aber eben vor allem für angehende Akademikerinnen und Akademiker. Ich arbeite daran, dass wir diese Programme stärker für Auszubildende und junge Berufstätige öffnen. Mehr Azubis sollten die Möglichkeit bekommen, einen Teil ihrer Ausbildung im Ausland verbringen.

Büchner: Brauchen wir eine europäische Armee?

Wir sind mit einem Binnenmarkt von 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern in der EU eine der attraktivsten und einflussreichsten Regionen weltweit. In außen- und sicherheitspolitischen Fragen sprechen wir noch zu selten mit einer Stimme. Andererseits haben wir uns auf eine Sicherheitsstrategie verständigt. Für uns spielen Diplomatie und ziviles Krisenmanagement, Handel und kultureller Austausch eine große Rolle, neben militärischen Konfliktlösungen. Das ist ein Exportschlager in einer immer unfriedlichen Welt, in der sich die USA mehr und mehr zurückziehen. Am Ende könnte ich mir eine europäische Armee vorstellen. Unsere nationalen Armeen arbeiten schon jetzt immer enger zusammen.

Büchner: Mich interessiert der Machtkampf in Venezuela um den selbst ernannten Übergangspräsidenten Juan Guaidó und Diktator Maduro. Welche Position haben Deutschland und die EU?

Unsere Antwort auf Donald Trumps „America first“ ist „Europe united“. Wir müssen eine gemeinsame Position entwickeln. Juan Guaidó hat unsere politische Unterstützung als Vertreter der einzig demokratisch legitimierten Institution in Venezuela. Aus unserer Sicht ist Juan Guaidó der Interimspräsident Venezuelas, um freie, faire und glaubwürdige Präsidentschaftswahlen einzuleiten. Es kann nur eine politische Lösung für diese Krise geben.

Heide: Mit welchem Slogan wollen Sie die Bürger für die Europawahl motivieren?

Trotz aller Kritik: Nur als Teil eines geeintes Europas hat unsere Stimme in der Welt Gewicht. Europa war, ist und bleibt unsere Lebensversicherung in Krisenzeiten.

Storde: Man schlägt bei all den unterschiedlichen Meinungen in der EU schon mal die Hände über dem Kopf zusammen. Ich wünsche Ihnen viel Mut und Kraft für Ihren schwierigen Job. Ich wünsche mir zudem, dass man die Bürger in ihrem Alltag abholt, nicht nur auf intellektueller Ebene schwebt.

Danke. Bleiben Sie so wachsam!

Text: Andre Dolle

„Die EU will die Bürger nicht ärgern“

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