Braunschweig. Der Vorsitzende des Handelsausschusses des Europäischen Parlaments sieht die Briten in der Pflicht. Sie müssten schnell klare Ansagen liefern.

Mit Bernd Lange, dem Vorsitzenden des Handelsausschusses des Europäischen Parlaments, sprach Andre Dolle. Lange wohnt in Burgdorf bei Hannover.

Es war keine große Überraschung mehr, aber war das Ergebnis der Brexit-Abstimmung im britischen Unterhaus ein Schock für Sie?

Nicht mehr, denn das Ergebnis war ja absehbar. Es ist klar, dass es keine Mehrheit bei den britischen Konservativen für den verhandelten Austrittsvertrag mit der EU gibt. Weiter kann die EU den Brexiteers in der konservativen Partei aber nicht mehr entgegenkommen. Es war kein Schock, das Ergebnis stellt jedoch große Herausforderungen auf die Tagesordnung.

Ist eine gütliche Trennung mit Großbritannien weiter möglich?

Na klar. Dieser Vertrag hatte zwar keine Mehrheit, weil die konservativen Hardliner ihn nicht mitgetragen haben. Sie wollen mehr. Aber es gibt die schottische Partei, die nordirische Partei und auch die Labour-Partei um Jeremy Corbyn. Diese bemühen sich um einen Vertrag, der in eine ganz andere Richtung geht. Sie favorisieren eine permanente Zollunion, ein Modell Norwegen oder Schweiz. Diese beiden Länder sind nicht Mitglied der EU, sind aber wirtschaftlich eng angelehnt. Es kommt jetzt sehr darauf, wie Premierministerin Theresa May agiert. Ob sie stur versucht, den Hardlinern entgegenzukommen. Oder ob sie versucht, eine Kooperation mit Labour, Neuwahlen oder ein zweites Referendums einzugehen.

Die Gefahr eines chaotischen Brexits ist nun aber so groß wie nie.

Diese Gefahr ist da. Angesichts der spezifischen Konstellation im britischen Unterhaus kann es tatsächlich sein, dass es nicht möglich ist, eine vernünftige Lösung herbeizuführen. Die EU wappnet sich für einen harten Brexit. Wir bereiten 14 Gesetzgebungen vor, zusätzlich noch 30 Implementations-Maßnahmen, um die Folgen abzuschwächen. Wirtschaftlich und politisch wäre ein chaotischer Brexit natürlich fatal.

Sie haben es schon angedeutet: Die Gegner des Brexit-Vertrages mit der EU haben in Britannien unterschiedliche Motive. Was heißt das für die Strategie der EU?

Die Hardliner betreiben Rosinenpickerei. Ansonsten wollen sie die völlige Unabhängigkeit gegenüber der EU. Denen dürfen wir nicht entgegenkommen. Sonst wäre Großbritannien ein ganz normaler Drittstaat ohne besondere Beziehungen zur EU. Es war zwei Jahre lang ein großes Problem, zu wissen, was der Verhandlungspartner will.

Bleibt die in Großbritannien besonders kritisierte Garantie für eine offene Grenze in Irland – der sogenannte Backstop – für die EU unerlässlich?

Das ist so. Es war viel Energie nötig, um das Karfreitagsabkommen zwischen Irland und Nordirland vor mehr als 20 Jahren abzuschließen. Das werden wir nicht aufgeben. Damals waren auch viele aus dem Europäischen Parlament beteiligt. Der Nordire John Hume hat dafür den Friedensnobelpreis erhalten. Es gibt täglich gut 50.000 Pendler auf beiden Seiten. Die ehemalige Grenze ist gar nicht mehr zu sehen. Das darf man nicht infrage stellen. Da wabert es noch. Das Karfreitagsabkommen ist ein wichtiges Momentum. Die vom Labour-Chef Corbyn ins Spiel gebrachte permanente Zollunion der Briten mit der EU würde das Backstop-Problem weitgehend lösen.

Der Brexit am 29. März naht. Kann die EU mit den Briten auf die Schnelle einen Plan B zimmern?

Ja. Wenn sich eine Lösung abzeichnet, kann man natürlich auch eine Fristverlängerung für den Brexit ins Spiel bringen. Ohne eine wirkliche Neuorientierung der Briten wird es eine Verlängerung aber nicht geben können.

Spätestens noch vor der Europawahl im Mai muss doch Klarheit herrschen, oder?

Es hat natürlich keinen Sinn, die Briten bei der Europawahl angesichts ihres Austrittwillens abstimmen zu lassen. Auch das müsste man vertraglich regeln. Alles andere würde die Spannungen in der britischen Gesellschaft nur unnötig weiter anheizen.

Was ist mit einem zweiten Referendum in Großbritannien? Die Umfragewerte haben sich zuletzt verschoben.

Neben einer Kooperation der Konservativen mit Labour und Neuwahlen ist ein weiteres Referendum die dritte Option. Das Problem ist jetzt, dass die Zeit fehlt, diese drei Optionen vernünftig miteinander abzuwägen. Deshalb wird ein chaotischer Brexit ja auch immer wahrscheinlicher. Die jetzige Regierung tut sich äußerst schwer, eine vernünftige Lösung hinzubekommen. Für ein erneutes Referendum sind vier bis fünf Monate Vorbereitungszeit notwendig. Der 29. März würde in diesem Fall gerissen werden. Wir brauchen möglichst schnell klare Ansagen, was die nächsten Schritte sind. Der Ball liegt nun im Spielfeld der Briten.

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier sagte, bei einem ungeregelten Brexit würden alle verlieren. Ist die EU nicht stark genug?

Bei einem chaotischen Brexit gibt es große wirtschaftliche Brüche. In der Automobil-Industrie zum Beispiel gibt es eine sehr verflechtete Wertschöpfungskette. Die Kurbelwelle etwa wird in Frankreich hergestellt, in Deutschland veredelt, in Großbritannien ins Auto gebaut, das wiederum nach Deutschland zurückverkauft wird. Bei einem harten Brexit gibt es Zollkontrollen, unterschiedliche Qualitätsstandards. Was ist zum Beispiel mit den Flugrechten? Niedersächsische Fischer könnten nicht mehr ins britischen Hoheitsgebiet hinein. All das würde erhebliche Verwerfungen mit sich bringen. Klar ist aber auch, dass wir in der EU die Fähigkeit haben, das abzuschwächen. Großbritannien wird wesentlich mehr darunter leiden. Dieses Bewusstsein ist bei den Briten gewachsen. Deshalb gibt es ja das starke Ringen um eine vertragliche Lösung.

Die britische Abgeordnete Janice Atkinson sagte am Mittwoch im Europäischen Parlament: „Wir brauchen euch nicht. Lasst uns gehen und Britannien wieder großartig machen.“ Was denken Sie, wenn Sie so etwas hören?

Das ist Populismus in Reinkultur. Es kann in einer globalisierten Welt keine absolute Souveränität von einzelnen, kleineren Staaten mehr geben. Es ist eine absolute Illusion der Briten, zu glauben, man würde wieder großartig werden, wenn man vollkommen allein die Segel setzt. Ein harter Brexit wäre der größte Fehler, den die Briten machen könnten – und der größte Souveränitätsverlust in der Geschichte Großbritanniens.