Braunschweig. Orakel Hildegard Schooß spricht über Wege aus der Pflegekrise und warnt vor Altersarmut und rechtsextremen Strömungen.

Sozial-Expertin Hildegard Schooß blickt auf das kommende Jahr. Für das Orakel unserer Zeitung sprach Jens Gräber mit ihr.

Gesundheitsminister Jens Spahn hat einen Vorschlag gemacht, um den Mangel an Pflegekräften zu entschärfen. Er sagte etwa: Wenn jeder in der Pflege Beschäftigte nur ein paar Stunden mehr arbeiten würde, wäre schon viel gewonnen. Wird uns diese Idee helfen?

Ich glaube, dass Jens Spahn sich bemüht, Lösungen für den immensen Notstand zu finden. Aber diesen Vorschlag halte ich nicht für seriös in der derzeitig höchst angespannten Lage der Pflege. Ich glaube, dass der Minister erst im Laufe der Debatten nach seinem Vorstoß verstanden hat, was wirklich notwendig und machbar ist, um die Situation in der Pflege zu verbessern. Auf dem Rücken der sowieso schon überlasteten Pfleger und Pflegerinnen geht das keinesfalls. Aber ehrenwert ist, das jetzt in den Plänen auch die Imagefrage, die Wertschätzung vorkommt, die ich schon im vergangenen Jahr angesprochen hatte: Das Image des Pflegeberufs muss deutlich aufgewertet werden.

Dabei geht es sowohl um die Qualität der Ausbildung als auch um die Bezahlung. Dieser Weg könnte Erfolge bringen, auch wenn er noch ziemlich lang sein wird.

Gibt es denn genug Menschen, die Interesse an dem Beruf haben? Ist das wirklich nur eine Frage der Rahmenbedingungen?

Ich glaube das, ja. Bezahlung und Anerkennung habe ich schon erwähnt, aber natürlich betrifft das auch Arbeitszeiten, die mit dem Privatleben vereinbart werden können. Ich kenne Beispiele von Frauen, die in der Altenpflege tätig waren und als sie Kinder bekamen, konnten ihre Arbeitgeber ihnen keine familienfreundlichen Arbeitszeiten anbieten, weil der Personalstand das nicht hergab. Diese Frauen landen in anderen Einrichtungen, wo die Zeiten flexibler sind. Dort kriegen sie das hin mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber in der Pflege fehlen sie dann.

Mit der Pflege zusammen hängt auch die Frage, wer sie sich in Zukunft noch leisten kann. Von Altersarmut ist immer wieder die Rede. Klar ist, dass prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die heute herrschen, uns erst recht in der Zukunft Probleme bereiten werden – weil vielen Menschen im Alter das Geld fehlt, ein auskömmliches Leben zu finanzieren. Wie wird sich das entwickeln?

Dieses Thema ist ein Dauerbrenner. Wir haben das Problem mit der Armut ja schon lange, und es betrifft nicht nur Alte, auch Kinder. Neu ist: Diese Situation wirkt jetzt bedrohlich auf die Menschen der Mittelschicht, also die heute besser Verdienenden, sie fürchten sich vor dem sozialen Abstieg – und das mit Recht. Über eine Sache wird vor dem Hintergrund der Vollbeschäftigung viel zu wenig gesprochen: die steigende Zahl der prekär Beschäftigten. Ein nicht geringer Teil der erwerbstätigen Bevölkerung braucht mehr als einen Job, um über die Runden zu kommen. Wer in dieser Form prekär beschäftigt ist, treibt absehbar in die Armut, obwohl er sein Leben lang Vollzeit gearbeitet und in die sozialen Systeme eingezahlt hat. Diese Menschen haben vielleicht noch ihr Auskommen, solange sie arbeitsfähig sind, aber spätestens bei der Rente wird es eng.

Viele, zu viele Menschen werden sich kein gutes Leben im Alter leisten können – und womöglich auch kein gutes Sterben. Außerdem wissen wir, dass viele Menschen eine tiefliegende Angst vor der Zukunft entwickeln. Angst als ein Grundgefühl in großen Teilen der Bevölkerung macht natürlich etwas mit der Gesellschaft – und das ist nichts Gutes. Wir werden uns fragen müssen, wie soll die Gesellschaft damit umgehen, haben wir akzeptable Lösungen?

Was kann helfen? Noch mehr Mütterrente?

Ich finde die Mütterrente als Korrektur richtig, weil sie auch ein Beitrag dazu ist, die Wertschätzung der Lebensleistung von Müttern zu verbessern. Sie ist ein Signal. Der tatsächliche finanzielle Zugewinn ist aber eher gering. Das gilt auch für die derzeit diskutierten Rentenerhöhungen. Sie sind insgesamt gesehen teuer und haben eine wichtige Signalwirkung, aber der tatsächliche Gewinn für den Einzelnen bringt keine Sicherheit für ein gutes Leben – gerade, wenn die Rente an sich zu niedrig ist.

Es gibt den Vorschlag, Kinderlose mehr in die Rentenkasse einzahlen zu lassen. Wird er sich durchsetzen?

Viele Kinderlose lehnen diese Idee vehement ab, mit der Begründung, dass sie sowieso an vielen Stellen mehr in unsere Sozialsysteme einzahlen. Das wird schon so sein. Ich habe trotzdem irgendwie das Gefühl, dass es richtig wäre, Kinderlose an den Mehrkosten höher zu beteiligen, als Eltern die sich viel Mühe geben und beträchtlichen finanziellen Aufwand haben mit dem Aufziehen ihrer Kinder, die schließlich Beitragszahler werden und den demografischen Wandel bestreiten müssen.

Aber würde ein solcher Schritt eines unserer Probleme mit dem Rentensystem lösen?

Nein, das glaube ich nicht. Man könnte das als eine Art Racheakt interpretieren, deshalb kann man es nicht wirklich wollen und die Idee wird sich auch nicht durchsetzen. Es ist ja jedermanns freie Entscheidung, ob er Kinder will oder nicht.

Und: Wenn man so etwas einführt, dann müssten etwa auch Leistungssportler auf Grund ihres höheren Risikos, frühzeitig Leistungen zu beziehen, mehr einzahlen. Man könnte das Denkmuster auf beliebig viele Bereiche ausdehnen. Die Gesellschaft wäre am Ende nicht besser, nur noch stärker reguliert.

Was ich bemerkenswert finde, ist, dass wir auf Probleme immer nur innerhalb der bestehenden Systeme reagieren. Es fehlt Geld in der Rentenkasse, also fragen wir, wer mehr einzahlen könnte. Ich glaube, wir müssen grundsätzlich die Rahmenbedingungen anschauen, unter denen Menschen leben und arbeiten, wenn wir bei der Lösung solcher lange bekannten und oft diskutierten Probleme weiterkommen wollen.

Es gibt Beobachter, die in Deutschland eine Verrohung der Sprache oder gar der Gesellschaft selbst beklagen. Tatsache ist, dass es Menschen gibt, die sich abgehängt fühlen, sei es durch die Wohnungsnot in großen Städten oder die Schwierigkeit, einen Job zu finden, von dem sie leben können. Einige dieser Menschen äußern ihren Unmut lauter als noch vor einigen Jahren und wenden sich teils extremen Parteien oder Gruppen zu. Können wir das verhindern, indem wir uns um mehr Verständnis für ihre Probleme bemühen?

Es heißt ja oft, wenn wir die Bürger nicht alle mitnehmen, werden es eben Wutbürger und das ist dann die Schuld der Regierenden. Oder umgekehrt: Wenn die Regierenden Fehler machen, haben die Menschen das Recht, einfach wütend zu sein, sich Rechtsextremen anzuschließen. So einfach geht das nicht. Damit muss Schluss sein. Es reicht nicht, nur seinen Unmut zu äußern oder Widerstand gegen das zu leisten, was einem nicht passt. Jeder Mensch muss im Rahmen seiner Möglichkeiten Verantwortung übernehmen. Wer beispielsweise keine bezahlbare Wohnung findet, kann natürlich nicht selbst eine bauen. Aber er könnte sich mit anderen zusammentun und friedliche Proteste initiieren, um auf das Problem hinzuweisen.

Viele engagierte Bürger haben in den letzten Monaten gezeigt, dass sowas möglich ist und große Wirkung zeigt. Es berührt mich sehr, wenn ich erlebe, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich mutig aufmacht und gegen Populismus und rechte Parolen auf die Straße geht, Flagge zeigt und damit deutlich macht, dass wir unsere Werte nicht kaputt machen lassen.

Es ist richtig, Verständnis zu haben, wenn die Dinge nicht im Sinne der Bevölkerung laufen, aber das entschuldigt eben nicht jede Art von Verhalten. Wir müssen Formen der Kritik und des Protestes finden, die nicht jenseits der Menschenwürde stehen. Wir dürfen eine Haltung, die verunglimpft und Gewalt in Sprache und Gesten nicht zulassen. Das ist unwürdig und entspricht nicht unserer Kultur.

Ziel der Verunglimpfung, von der sie sprechen, sind oft Flüchtlinge. Seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, als Angela Merkel entschied, die Grenzen nicht zu schließen, sondern Menschen aufzunehmen, hat das Thema und die Entscheidung der Kanzlerin die Gesellschaft polarisiert. Merkel ist den Vorwurf, falsch entschieden zu haben, nie losgeworden. Inzwischen steht sie deutlich geschwächt da, wird nicht mehr Vorsitzende ihrer Partei sein und vielleicht nicht bis zum Ende der Wahlperiode regieren können. Ist das auch ein Signal dafür, dass sich das gesellschaftliche Klima gewandelt hat?

Ich bin ein großer Fan der Politikerin Angela Merkel. Sie hat die Menschlichkeit als einen wesentlichen Grundwert unserer Gesellschaft auch in der Krise aufrechterhalten. Von anderen war dagegen zu hören: Aber das können wir nicht, das brauchen wir nicht, das wollen wir nicht. Dass Frau Merkel beim Thema Flüchtlinge letztlich eingeknickt ist, zeigt, wie viele Menschen sich innerhalb und außerhalb der Politik für die Grundlagen der Menschlichkeit als ein Wesenskern unserer Kultur nicht interessieren. Für das Wohlergehen unserer Bevölkerung ist sehr wesentlich, dass uns die Menschen, die unterwegs sind, um ihr Leben zu retten, rühren und wir die unfasslichen Zustände in Grenzlagern nicht einfach hinnehmen, sondern nach geeigneten Methoden und Möglichkeiten suchen, Schutz zu geben. Hoffen wir, das neue Politiker ihre Macht nutzen, die Grundfesten unserer Gesellschaft zu erhalten und zu schützen.

Rechte und rechtsextreme Kräfte in Deutschland jubeln über Merkels Schwäche. Wie gefährlich werden die in Zukunft für die Demokratie sein?

Die sind sehr gefährlich. Mich hat enorm erschreckt, dass es nicht eine Frage der Bildung ist, dass tatsächlich sogar viele gebildete Menschen der Logik der Rechten folgen. Im Internet, in sozialen Netzwerken fallen bei vielen die Hemmungen. Das darf so nicht hingenommen werden. Zuerst ist es die Aufgabe des Staates, mit seinen Institutionen dem nachzugehen und unser Strafrecht umzusetzen. Darüber hinaus ist es auch eine überaus wichtige Aufgabe der Zivilgesellschaft, jeden Populismus und Extremismus von rechts wie links aufzudecken und zu verhindern.

Ein Thema sind die Nichtwähler – wir müssen sie wieder erreichen. Es ist eine große Aufgabe für die Zukunft, deutlich zu machen, wie großartig es ist, in einer Demokratie zu leben. Und dazu gehört auch, das Wahlrecht zu nutzen. Jede und jeder Einzelne kann zur Aufklärung beitragen, da wo sie oder er in dieser Frage steht. Die große Frage ist, wie wir den Rechtsruck stoppen können.

Und wie?

Der Staat wie die Regierung haben hier gesetzliche Aufgaben, die sie umzusetzen haben, mit aller Konsequenz. Es ist aber auch eine Verantwortung jedes einzelnen Bürgers, unser Land vor dem Abdriften nach rechts zu schützen. Im eigenen Umfeld müssen wir uns kritisch gegenüber bestimmten Äußerungen verhalten: Rassismus, Falschaussagen, Angriffe oder Bedrohungen. Wir müssen lernen, direkt darauf zu reagieren. Wegsehen geht nicht! Das braucht Mut. Bei den Wahlen ist es eigentlich ganz einfach, Verantwortung zu übernehmen: Nicht wählen geht nicht!

Unsere Leserin Anneliese Perkampus fragt: Wie gehen wir mit den jungen Vernachlässigten in unserer Gesellschaft um, die durch Langeweile und falsche Freunde auf die schiefe Bahn kommen? Hier werden sie erst zu einer Gefahr für unsere Gesellschaft.

Ich bin sehr dankbar für die neutrale Formulierung, weil sie deutlich macht, das es nicht nur um Zugewanderte geht. Ein 15-Jähriger, gleich woher er kommt, ist nicht alleine dafür verantwortlich, dass er so ist, wie er ist. Zur Persönlichkeitsentwicklung hat auch sein Umfeld beigetragen: Eltern, Schule, Öffentlichkeit. Selbstverständlich muss er in die Verantwortung genommen und ihm muss gezeigt werden, welches Verhalten nicht okay ist. Das ist ja oft bei Flüchtlingen im Herkunftsland gar nicht anders als bei uns. Im Falle von Straffälligkeit verfügen wir über ein ausreichend wirksames Strafgesetz, das entsprechend angewendet werden muss.

Das Erleben von Krieg, bitterer Armut, Hunger, Einsamkeit, das Fehlen von Schule oder Bildung, das Problem, die Landessprache nicht zu verstehen – das alles sind die schlechtesten Voraussetzungen, den richtigen Weg zu finden, ohne zu straucheln.

Was wir tun können: Ausgrenzung durch Ghettoisierung verhindern, stattdessen zeitnah funktionierende Möglichkeiten zur Integration anbieten, Kontakte zu Einheimischen, Arbeit und Ausbildung ohne bürokratische Hürden. Großzügige Rahmenbedingungen schaffen für alle, die sich mit den jungen Leuten beschäftigen.