Braunschweig. Resistenzen gegen Antibiotika breiten sich aus. Am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung wird nach Wirkstoffen und neuen Ansätzen gesucht.

Warum sträubt sich die Pharma-Industrie gegen die Forschung und Anwendung von Phagen? Hat sie Angst um ihre Milliardengewinne?

Das fragt unser Leser Uwe Dahms.

Die Antwort recherchierte
Johannes Kaufmann

Gerade ist die „World Antibiotic Awareness Week“ ausgelaufen. Sie wurde von der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgerufen, um auf das wachsende Problem von Antibiotikaresistenzen aufmerksam zu machen. 2015 gab es zum ersten Mal eine solche Welt-Antibiotikawoche. Seitdem ist das Problem stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt, zugleich aber auch drängender geworden.

Anfang November haben Wissenschaftler im medizinischen Fachmagazin „Lancet“ neueste Zahlen zur den Folgen von Antibiotikaresistenz innerhalb der EU vorgelegt. Demzufolge starben 2015 etwa 33.000 Menschen an Infektionen mit resistenten Keimen, davon 2363 in Deutschland. Die „Kosten“ in verlorenen Lebensjahren seien vergleichbar mit denen von HIV, Influenza und Tuberkulose zusammen.

Neben Versuchen, die Ausbreitung von Resistenzen durch besseres Antibiotika-Management zu verlangsamen, zählt die Suche nach neuen Wirkstoffen zu den wichtigsten Mitteln im Kampf gegen dieses stetig größer werdende Gesundheitsproblem. Ein besonders exotischer Ansatz ist dabei der Einsatz der von unserem Leser angesprochenen Bacteriophagen (etwa: Bakterienfresser), also von Viren, die Bakterien infizieren und zerstören. Allerdings steht diese Therapie vor großen regulativen Hürden. Denn die übliche Medikamentenzulassung in der EU bezieht sich auf klar definierte Substanzen von einer garantierten Qualität. Phagen hingegen sind biologische Organismen, die sich im Wechselspiel mit ihren Wirtszellen ständig genetisch verändern.

Obwohl Phagen bei einem angepassten Zulassungsverfahren künftig großes Potenzial bei der Behandlung einiger bakterieller Infektionen haben, ist ein näherliegender Schritt die Suche nach neuen klassischen Antibiotika. Doch ein Blick auf die Zahlen der sich in Entwicklung befindlichen neuen Medikamente ist ernüchternd. Gerade einmal rund 30 Wirkstoffe durchlaufen derzeit die klinische Erprobung, von denen nur ein knappes Drittel über einen neuen Mechanismus wirkt und damit das Potenzial hat, bestehende Resistenzen zu überwinden. Und nur drei davon zielen auf die im Jahr 2017 von der WHO definierten „kritischen“ Keime.

Das letzte Mal, das eine neue Wirkstoffklasse gegen diese sogenannten Krankenhauskeime auf den Markt kam, ist 25 Jahre her. Diese Entwicklungslücke seit der Mitte der 1960er Jahre ist lange bekannt. Und dennoch sind dieses Jahr mit Novartis und Sanofi zwei der verbliebenen vier großen Pharmaunternehmen, die neue Antibiotika entwickeln, aus der Forschung ausgestiegen.

Mit neuen Antibiotika lässt sich kein Geld verdienen

Denn von den Milliardengewinnen, die unser Leser anspricht, kann in diesem Feld keine Rede sein. Im Gegenteil: Die Entwicklung eines Antibiotikums ist für den Hersteller mit großer Wahrscheinlichkeit ein Minusgeschäft. Laut einer Berechnung der Boston Consulting Group ist bei einem neuen Antibiotikum zehn Jahre nach Markteinführung mit einem Defizit von 100 bis 500 Millionen US-Dollar zu rechnen. Zum Vergleich: Bei einem neuen Krebsmedikament liegt die Prognose zwischen einem Minus von 450 Millionen und einem Plus von 8,2 Milliarden Dollar.

„Die Entwicklungskosten liegen bei mindestens 500 Millionen Euro, und die Verkaufszahlen der jüngsten Neuzulassungen sind enttäuschend“, sagt Professor Mark Brönstrup, Leiter der Abteilung Chemische Biologie und Koordinator der Wirkstoffforschung am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig. Denn da die Patente der alten Antibiotika längst abgelaufen sind, gebe es billige Generika auf dem Markt. Neue Mittel, die ihre Entwicklungskosten einspielen müssen, könnten damit nicht konkurrieren.

Zudem sei die geforderte Entwicklung von sogenannten Reserve-Antibiotika konträr zum wirtschaftlichen Interesse jedes Unternehmens, ergänzt Professor Rolf Müller, der den HZI-Standort für Pharmazeutische Forschung (HIPS) in Saarbrücken leitet. „Die Firmen sollen Medikamente entwickeln, die dann in der Schublade verschwinden mit der Aufforderung an den Arzt: ,Davon lass aber die Finger’“, so Müller. Denn um die neuen Waffen möglichst lange scharf zu halten, sollen sie nur nur zum Einsatz kommen sollen, wenn andere Mittel aufgrund von Resistenzen versagt haben.

International werden daher verschiedene neue Anreizmodelle diskutiert. Dazu zählen Markteintrittsprämien, schnellere Registrierungen oder auch Gutscheine für die beschleunigte Zulassung eines anderen, lukrativeren Medikaments als Belohnung für die Einführung eines Antibiotikums. Zudem engagieren sich in der Antibiotikaforschung mittlerweile verstärkt die öffentliche Hand, private Stiftungen wie die von Bill und Melinda Gates und internationale Kooperationen wie die „Innovative Medicines Initiative“ (IMI) der EU.

Pilze und Bakterien – Natürliche Wirkstoffproduzenten

Am HZI werden verschiedene Ansätze verfolgt. Einer ist die Suche nach neuen Wirkstoffen in der Umwelt. „80 Prozent aller Antibiotika sind von Naturstoffen abgeleitet, die von Bakterien oder Pilzen produziert werden“, erklärt Dr. Kathrin Wittstein von der Abteilung Mikrobielle Wirkstoffe.

Denn Mikro-Organismen üben sich seit Milliarden von Jahren in chemischer Kriegführung gegeneinander. Das 1929 von Alexander Fleming entdeckte erste Antibiotikum hat seinen Namen von einem Schimmelpilz, der damit Bakterien in einer in einem Labor vergessenen Petrischale abtötete: Penicillium notatum.

Deswegen sammeln Wittstein und ihre Kollegen Pilze und Bakterien aus der Natur, teils von exotischen Orten in Afrika oder Südamerika, züchten sie bei optimalen Bedingungen im Schüttelkolben in verschiedenen Medien an und prüfen, ob sie interessante Substanzen produzieren. In Bioreaktoren kann diese Produktion „hochskaliert“ werden – bis zu einem Volumen von mehreren tausend Litern Nährmedium.

Ein solcher interessanter Wirkstoff ist Corallopyronin, der Bakterien der Gattung Wolbachia zerstört. Diese Erreger leben in Symbiose mit Fadenwürmern, die schwere Krankheiten wie Flussblindheit oder Elefantiasis hervorrufen. Werden die Bakterien getötet, stirbt auch der Wurm. Allerdings lässt der Produzent des Corallopyronins, ein Bakterium, sich nur schlecht kultivieren. Die HZI-Forscher haben daher kurzerhand das Erbgut für den Stoffwechselweg des Corallopyronins in den leichter zu handhabenden Keim Myxococcus xanthus übertragen und diesen so als Biofabrik genutzt. Dasselbe Prinzip der Erbgutübertragung findet auch Anwendung, wenn Forscher in den Genen eines Bakteriums einen interessanten Stoffwechselprozess entdecken, der aber unter den künstlichen Bedingungen im Labor gar nicht aktiviert wird.

Aber auch ohne genetische Veränderung sind solche Myxobakterien vielversprechend. Professor Müller bezeichnet sie als „die interessantesten Organismen der Mikrobiologie“. Passenderweise befindet sich die weltweit größte Sammlung von Myxobakterien am selben Ort wie das HZI: in der Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) in Brausnchweig-Stöckheim.

Ein vielversprechender Kandidat für ein Breitband-Antibiotikum gegen gramnegative Bakterien wie E.Coli, Pseudomonas aeruginosa oder Acinetobacter baumannii sind die Cystobactamide, mit denen Bakterien der Gattung Cystobacter sich gegen Konkurrenten wehren. „Aus der Art und Weise, wie sich diese Bakterien vor ihrem eigenen Antibiotikum schützen, konnten wir auf den Wirkmechanismus schließen“, erklärt Müller. In Mäusen sei die Wirkung bereits erfolgreich getestet worden, Kreuzresistenzen bei antibiotikaresistenten Keimen seien dabei wie erwartet kaum beobachtet worden. „Wenn keine Hürden auftreten, ist eine Zulassung als Medikament in fünf bis sechs Jahren realistisch“, sagt Müller.

Bakterien nicht töten, sondern entwaffnen

Einen anderen Ansatz verfolgt die Arbeitsgruppe Infektionsimmunologie von Dr. Eva Medina. Sie zielt nicht auf die Vernichtung der Erreger, sondern auf die Hemmung sogenannter Virulenzfaktoren. „Das sind zum Beispiel Stoffe, die den Wirt schädigen oder Mechanismen, mit denen das Bakterium sich vor dem Immunsystem versteckt“, erklärt Medina. Der Vorteil dieses Ansatzes: „Da die Keime nicht getötet werden, entsteht kein so starker Selektionsdruck zur Induktion von Resistenzen.“ Eine entsprechende Mutation verschafft den Trägern also keinen Überlebensvorteil.

Die Ansätze lassen sich auch kombinieren. So schützen sich Pseudomonaden während einer Infektion mit einem sogenannten Biofilm, einer Schleimschicht, in die die Bakterienkolonie eingebettet ist, gegen Antibiotika und das Immunsystem. Forscher am HIPS haben ein Molekül entwickelt, das die Bakterien ihrer Rüstung beraubt, indem es die Bildung eines Biofilms blockiert.

Bereits in der klinischen Erprobung befinden sich Antikörper, die an Alpha-Hämolysin binden. Mit diesem Giftstoff schädigt Staphylococcus aureus, dessen antibiotikaresistenten Stämme als MRSA bekannt und berüchtigt sind, bei einer Infektion die Zellen seines Wirts, was zum Beispiel zu einer gefährlichen Lungenentzündung oder zum Absterben der Haut führen kann. Der Antikörper entwaffnet den Erreger und macht ihn damit unschädlich, ohne ihn zu töten.

All diese Wirkstoffe und Ansätze sind allerdings noch Jahre vom Einsatz in der Klinik entfernt. Im Vertrauen auf ausreichend scharfe Waffen im Antibiotika-Arsenal ist die medizinische Forschung im immerwährenden Kampf gegen krankmachende Bakterien in den vergangenen Jahrzehnten weit zurückgefallen. Es wird dauern, bis die entstandene Entwicklungslücke geschlossen und abgewendet ist, was die WHO als eine der „größten Bedrohungen der globalen Gesundheit“ bezeichnet – ein „postantibiotisches Zeitalter“, in dem jede Infektion tödlich enden kann.