Braunschweig. Die Virus-Erkrankung sei gefährlicher, als viele denken, warnen Ärzte. Schäden durch die Grippe-Impfung seien dagegen sehr selten.

Ist ja ganz schön und gut, wir haben uns auch alle impfen lassen – und trotzdem haben wir die Grippe bekommen.

Das schreibt unsere Leserin
Heike Mellin

Zum Thema recherchierte
Jens Gräber

Im vergangenen Winter sind mehr als 20 000 Menschen an Grippe gestorben – das schätzt das Robert Koch-Institut (RKI). „Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, weil das ja nicht routinemäßig getestet wird“, sagt Dr. Stefan Müller-Dechent, Leiter des Gesundheitsamtes in Salzgitter. „Es wird beim Arzt meistens nicht getestet und auch später nicht, wenn Sie mit Herzversagen tot im Bett liegen.“

Viele Patienten, die sich vorher nicht hätten impfen lassen, seien jetzt bekehrt, sagt Müller-Dechent. „Als sie infiziert waren, haben sie sich sterbenskrank gefühlt – das kannten sie vorher gar nicht. Die sagen jetzt, sie lassen sich impfen“, so der Arzt. Grippe werde eben oft unterschätzt. Das unterstreicht seine Braunschweiger Kollegin Dr. Brigitte Buhr-Riehm: Es seien keineswegs nur alte und bereits kranke Menschen gefährdet.

Eine gewisse Impfmüdigkeit im Hinblick auf die Grippe ist nicht zu leugnen: Tatsächlich betrug etwa die Grippe-Impfquote für die Wintersaison 2010/11 laut (RKI) in der gesamten Bevölkerung 32 Prozent. Unter den über 60-Jährigen, die stärker gefährdet sind, waren 54 Prozent geimpft. Diese Zahl ist seitdem sogar gesunken: 2016/17 waren bundesweit nur noch 35 Prozent der über 60-Jährigen geimpft.

Das wollen die Chefs der Gesundheitsämter in unserer Region ändern. „Es ist unser Auftrag, die Impfrate zu erhöhen“, erklärt Buhr-Riehm. „Die ist bei Grippe immer noch schlecht.“ Deshalb rufen die Leiter der Gesundheitsämter in Wolfsburg, Gifhorn, Helmstedt, Wolfenbüttel, Salzgitter, Goslar und Braunschweig dazu auf, sich impfen zu lassen. Sie bieten die Impfung vom 22. bis 26. Oktober direkt in den Ämtern an. „Fast alle Krankenkassen zahlen die Impfung, auch wenn man nicht zu einer Risikogruppe gehört“, sagt Buhr-Riehm.

Über die Gründe für die Impfmüdigkeit lässt sich nur spekulieren. Es ist möglich, dass mehr Menschen Erfahrungen gemacht haben, wie sie unsere Leserin Heike Mellin beschreibt: Sie ließen sich impfen und wurden trotzdem krank. Eine möglich Erklärung dafür: „Es gibt viele Virusarten, die grippeähnliche Symptome hervorrufen können“, sagt Buhr-Riehm. Die Impfung schützt nur gegen die echte Grippe.

Allerdings war die Wirksamkeit des von der ständigen Impfkommission des RKI empfohlenen Dreifach-Impfstoffes in der vergangenen Grippesaison auch tatsächlich nicht so hoch wie erwartet. Das Institut betonte aber, dass sie immer noch bei 46 Prozent gelegen habe. Gar nicht so schlecht, betont Dr. Monika Schulze Kökelsum, Leiterin des Goslarer Gesundheitsamtes. „Die Schutzrate schwankt, auch bei anderen Impfungen“, sagt sie.

„Die Prognose, welche Virenstämme im Winter verbreitet sein werden, war jetzt ein Mal nicht so gut“, räumt Müller-Dechent ein. Das Virus verändere sich regelmäßig durch spontane Genmutationen. Für die Prognose würde deshalb relativ früh im Jahr von der Weltgesundheitsorganisation ausgewertet, welche Viren in Asien verbreitet seien – in der Regel seien das die, die später im Jahr dann auch in Europa und Deutschland grassierten. Da die Herstellung des Impfstoffes Zeit kostet, kann die Zusammensetzung im Laufe des Winters in der Regel nicht mehr geändert werden.

Die Impfkommission hat aus dem Misserfolg Konsequenzen gezogen: Für die kommende Saison wird statt des Dreifach-Impfstoffes der Vierfach-Impfstoff empfohlen, der umfassenderen Schutz bietet. Die Virenlinie, die beim letzten Mal fehlte, ist nun enthalten. Anders als bisher zahlen diesen Impfstoff nun auch die Kassen, das hat der Gemeinsame Bundesausschuss aus Spitzenvertretern von Ärzten, Kassen und Kliniken beschlossen.

Die Chefs der Gesundheitsämter sind sich jedenfalls einig: Auch ein etwas schlechterer Impfstoff ist besser als gar keine Impfung. Sie rufen alle Bürger zur Impfung auf, nicht nur Ältere, chronisch Kranke, Schwangere und im medizinischen Bereich Beschäftigte. „Wenn genügend Menschen geimpft sind, schützt die Herdenimmunität auch diejenigen, die sich nicht impfen lassen können“, erklärt Schulze Kökelsum. Im Klartext: Sind genügend Menschen gegen eine Krankheit immun, sind auch die übrigen geschützt, weil es keine Überträger mehr gibt. Ein Prinzip, dass auch bei anderen Impfungen gilt.

Nur in wenigen Fällen käme eine Impfung nicht in Frage: „Wer eine akute Infektion hat oder eine schwere Krebserkrankung, der sollte aufpassen“, sagt Schulze Kökelsum. Es sei bei akuten Erkrankungen ratsam, die Genesung abzuwarten. Bei schweren chronischen Erkrankungen solle am besten ein Arzt den Immunstatus des Patienten prüfen, bevor er geimpft wird. „Eine laufende Nase allein ist aber keine Hindernis“, betont die Ärztin.

Wer schwer krank ist, sollte am besten mit seinem Hausarzt über die Impfung sprechen, erklärt Buhr-Riehm. „Bevor wir in unseren Ämtern jemanden impfen, klären wir aber auch die wesentlichen Risiken ab.“ Die Menschen, bei denen schließlich partout keine Impfung möglich ist, sind genau diejenigen, die auf die Herdenimmunität angewiesen sind.

Angst vor Impfschäden, also Erkrankungen oder gar dauerhaften Schäden durch die Impfung, müsse niemand haben, betonen die drei Ärzte. Denn die seien sehr selten – sehr viel seltener als die Grippe und sehr viel seltener als Todesfälle durch Grippe. Schon Verdachtsfälle müssten den Gesundheitsämtern gemeldet werden, die sie an das Paul Ehrlich-Institut für Impfstoffe weiterleiten, erklärt Müller-Dechent. In Salzgitter habe es im vergangenen Jahr keine einzige entsprechende Meldung gegeben.

Die aktuellsten Zahlen, die das Institut auf Anfrage unserer Zeitung liefern kann, stammen aus 2016. Demnach gab es 3673 Verdachtsfälle auf Erkrankungen durch eine Impfung, 53 Verdachtsfälle auf einen bleibenden Schaden durch eine Impfung und 15 Fälle, in denen der Verdacht bestand, dass jemand durch eine Impfung starb. Wohlgemerkt: Die Zahlen beziehen sich auf alle in Deutschland verabreichten Impfungen, nicht nur auf die Grippe-Impfung.

Dem gegenüber stehen 9 Millionen Menschen, die laut RKI im vergangenen Winter wegen Grippe beim Arzt waren, und mehr als 20 000, die daran gestorben sind.