Gifhorn. Der Gifhorner Rentner Wilfried R. erschlug vor zehn Jahren eine 3-köpfige Familie. Seine Taten hat er nie bereut. Anfangs 2018 starb er in Haft.

„Ich frage mich, warum die Justiz nicht eher gehandelt hat? Muss erst so etwas schreckliches passieren bevor die Augen der Verantwortlichen geöffnet werden?“

Das fragt unser Leser Christian Mitschke auf unseren

Facebookseiten.

Die Antwort recherchierte Hendrik Rasehorn

. Eine Idylle im Kleinbürgermilieu, die Parzelle von Gisela, Hans und von ihrem Sohn Martin K. im Kleingarten am Dannenbütteler Weg in Gifhorn. Sedum und Mädchenaugen blühen, Mangold wächst, Sonnenblumen recken ihre Köpfe meterhoch. Am Gartenhäuschen festgenagelt sind zwei Fahnen der Brauerei Kronenbourg. Vom Dach hängt eine kleine Deutschflagge schlaff herunter. Vor der Hütte steht eine Plastikbank, davor ein Plastikzwerg.

So war es vor zehn Jahren. Heute ist das Grundstück überwuchert. Aus dem Gestrüpp ragt ein Teil des Dachs vom Gartenhäuschen heraus. Nichts erinnert daran, dass wenige Meter entfernt die Familie K. erschlagen wurde. Dabei ist dieser Fall ein Stück deutscher Kriminalgeschichte. Freitag jährt sich das Verbrechen zum zehnten Mal: die Ermordung der Opfer am 22. September 2008, die Entdeckung der Leichen und die Flucht des Täters Wilfried R. am 23. September, die Fahndung nach ihm sowie seine Festnahme am 24. September.

Wilfried R. war zur Tatzeit 65 Jahre alt. Das Foto zeigt ihn am Tag der Urteilsverkündung. Anfang 2018 verstarb er in der Haft.
Wilfried R. war zur Tatzeit 65 Jahre alt. Das Foto zeigt ihn am Tag der Urteilsverkündung. Anfang 2018 verstarb er in der Haft. © dpa | Holger Hollemann

1986 erbt der ungelernte VW-Arbeiter Wilfried R. die 7000 Qua-dratmeter große Laubenkolonie am südlichen Stadtrand Gifhorns. Er stellt sich den Pächtern vor: „Ich bin jetzt der Chef. So, wie es bis gelaufen ist, geht es nicht weiter. Wir werden eine Ordnung aufstellen.“ R. führt sich auf wie auf dem Kommandostand, „ihr bin der General, ihr seid die Stoppelhopser“, weist er seine Pächter zurecht. Die Idylle entwickelt sich zur Kampfzone: Beleidigungen, Schubsereien, Steinwürfe, zerstochene Autoreifen, Lauben brennen, in denen Kaninchen verenden.

Zwei Tage vor den Morden entsorgt ein Nachbar seinen Reisig vor R.’s Garten. Die Familie K. – früher Pächter eines seiner Grundstücke, die 2005 entnervt auf ein angrenzendes Grundstück umgezogen ist – hält er fälschlicherweise für die Schuldigen. Der 65-Jährige will ihnen eine Lektion erteilen.

Später melden sich viele zu Wort, die sagen, sie hätten es kommen gesehen, dass in der zerfahrenen Kleingarten-Konstellation eines Tages etwas Schlimmes passieren wird. Hätte man die Situation vor den Morden entschärfen können? Jürgen Schmidt, der frühere Leiter der Gifhorner Kripo, berichtet, der Dreifachmord wurde polizeiintern nachbereitet, um auf diese Frage eine Antwort zu finden.

Er zählt auf, mit wie vielen Vorfällen in der Laubenkolonie sich seine Kollegen über die Jahre hinweg beschäftigen musste. „Jeder verdächtigte den anderen, allerdings gab es nie Zeugen“, sagt Schmidt. Nach der Brandstiftung an den Gartenhäusern wird noch versucht, die Kleingartennachbarn an einen Tisch zu bringen – aber das wird allseits abgelehnt, stellt Schmidt klar. „Keiner wollte mit dem anderen sprechen und alle stritten eine Beteiligung an den Taten ab. Wir hatten keine Beweise, so dass wir letztlich auch keine rechtliche Handhabe hatten, weitere Maßnahmen zu ergreifen“, sagt Jürgen Schmidt. „Das macht einen betroffen und traurig.“

So eskaliert die Situation letztlich wegen der Fuhre Reisig. Es ist der 22. September und Wilfried R. ist geladen. Er sieht Martin K. mit einer Schubkarre und befürchtet, dass der ihm wieder Gartenabfälle vor der Tür kippen will. Dabei holt der tatsächlich nur Holz von einem Nachbarn ab. R. schnappt sich einen Eichenknüppel und versteckt sich am Wegesrand in der Hecke. Als K. vorbeikommt, springt er hervor, schreit ihn an. Der motzt zurück – und R. streckt den Jüngeren mit seinem Knüppel nieder.

Kurz nach der Tat hatte ein Nachbar am Kleingarten der getöteten Familie K. diese nachdenklichen Zeilen in einer Folie hingehängt.
Kurz nach der Tat hatte ein Nachbar am Kleingarten der getöteten Familie K. diese nachdenklichen Zeilen in einer Folie hingehängt. © Hendrik Rasehorn (Archivfoto)

„Ich glaube nicht, dass Wilfried R. die Familie K. von Anfang an umbringen wollte“, meint Schmidt. „Im Streit mit Martin K. ist er ausgerastet. Als dann die Eltern ihrem Sohn zur Hilfe eilen wollten, fasste Wilfried R. dies als Angriff auf. In diesem Moment hatte er nur noch rot gesehen und ist in einen Blutrausch verfallen.“ Die Schläge mit dem Eichenknüppel führt der drahtige Rentner so zahlreich und mit derartiger Wucht aus, dass der Zeuge, der am 23. September die Leichen findet – ein Nachbar aus dem Kleingarten – die Familie K. nicht erkennt.

Ein grausames Detail: Die Opfer überleben den Angriff noch um etwa 20 Minuten. Wilfried R. schleift die Halbtoten, einen nach dem anderen, in eine kleine Bucht am Wegesrand. Dann geht er nach Hause. Später auf die Frage eines Gerichtsgutachters, was er sich in dieser Situation gedacht hat, antwortet R.: „Nichts.“ Zu Hause macht er seinen Angehörigen Andeutungen, er habe jemanden eine „Lektion“ erteilt und ein „Exempel“ statuiert. Danach legt er sich schlafen.

Am folgenden Tag, dem 23. September 2008, werden die Leichen entdeckt. Schmidt erinnert sich: „Normalerweise besteht eine Mordkommission aus rund 20 Ermittlern. Bei diesem Fall waren in der ersten Phase 40 Kriminalisten und viele weitere Beamte der Schutzpolizei beteiligt.“ Wilfried R. erfährt von seiner Tochter vom Großeinsatz am Kleingarten. Er hat den Knüppel und seine blutbefleckte Kleidung entsorgt, doch er lässt sich zu einer Kurzschlusshandlung hinreißen und flüchtet. Er versteckt sich in den Wäldern. Die Ermittler sind sich bald sicher: Wilfried R. ist ihr Hauptverdächtiger.

Am Nachmittag des 24. Septembers präsentieren sie in einer Pressekonferenz sein Fahndungsfoto. R. versteckt sich auf einem Hof. Ein Landwirt entdeckt ihn unter einer Strohdieme und vertreibt ihn, alarmiert danach die Polizei – die Festnahme.

R. streitet vehement ab, Täter zu sein, knickt nach mehreren Verhören dann doch ein. „Ich habe Mörder erlebt, die ihre Tat aufrichtig bereuten. Das hat Wilfried R. nie getan. Im Gegenteil hat er den Opfern noch die Schuld zugeschoben“, erinnert sich Schmidt und erklärt „Gewalt hat meistens mit Sozialisation zu tun. Die meisten lernen und sollten wissen, dass man Konflikte nicht mit Gewalt löst.“

Für Wilfried R. ist das Leben nur eine Kette von Enttäuschungen, er fühlt sich bedeutungslos – außer im Kleingarten. Seinen Vater beschreibt er als gewalttätigen Tyrann . Wie der Vater, so der Sohn. Das Landgericht Hildesheim verurteilt ihn zu lebenslanger Haft. Darüber hinaus wird die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Für den Rentner bedeutet das Urteil tatsächlich lebenslänglich. Anfang des Jahres verstirbt er in der JVA Celle.

Chronologie

20. September 2008: Ein Pächter aus dem Kleingarten lädt einen Haufen Reisig vor dem Gartentor von Wilfried R. (65) ab. Der verdächtigt fälschlicherweise die Familie K..

22. September, abends: Wilfried R. liegt im Kleingarten auf der Lauer. Er stellt Martin K., es kommt zum Streit, er streckt den 33-Jährigen nieder. Von den Hilferufen ihres Sohnes alarmiert stürmen Hans (64) und Gisela K. (59). aus ihrem Garten – R. schlägt sie ebenfalls nieder nieder. Er versteckt die Schwerverletzten abseits des Wegs und geht nach Hause.

23. September, nachmittags: Ein Nachbar findet die Leichen der Familie K. und alarmiert die Polizei. Die Tochter von Wilfried R. berichtet ihrem Vater vom Einsatz. Er flüchtet.

24. September, vormittags: Zahlreiche Fernsehsender und Reporter berichten über die Ermittlungen zum Dreifachmord. Nachbarn der Familie K. bieten Fotos der Opfer zum Kauf an.

Polizei und Staatsanwaltschaft veröffentlichen ein Fahnungsbild von Wilfried R..
Polizei und Staatsanwaltschaft veröffentlichen ein Fahnungsbild von Wilfried R.. © Reiner Silberstein (Archivfoto)

24. September, früher Nachmittag: Polizei Gifhorn und Staatsanwaltschaft Hildesheim verkünden die Fahndung nach R..

24. September, später Nachmittag: Wilfried R. versteckt sich vier Kilometer Luftlinie von seiner Wohnung entfernt im Süden Gifhorns auf einem Hof. Ein Landwirt entdeckt ihn und alarmiert die Polizei. R. lässt sich widerstandslos festnehmen.

15. Oktober: Ein Hannoveraner Rechtsmediziner hält in Wolfsburg im Rahmen einer Opfer-Ausstellung einen Vortrag. Um diesen zu illustrieren, zeigt er auch ein Obduktionsbild von einem der Opfer der Familie K. Gegen den Arzt werden Ermittlungen eingeleitet.

7. Mai 2009: Das Landgericht Hildesheim verurteilt R. zu lebenslanger Haft. Zudem wird die besondere Schwere der Schuld festgestellt – damit hat er keine Chance auf vorzeitige Haftentlassung. Mitte September bestätigt der Bundesgerichtshof das Urteil.

August 2009/März 2010: Der österreichische Kriminalpsychologe Dr. Thomas Müller trifft R. in der JVA Sehnde. Das Gespräch wird für die Crimedoku „Urteil Mord“ (Sat1) gefilmt. R. beteuert: „Ich bin kein Mörder.“

Oktober 2010: Der deutsche Philosoph Richard David Precht nutzt den Gifhorner Dreifachmord als Aufhänger eines Kapitels in seinem Buch „Die Kunst, kein Egoist zu sein.“ Precht schreibt darin: „Eine Pingeligkeit, die es als gutes Recht erscheinen lässt, drei harmlosen Menschen den Schädel einzuschlagen, ist ein Paradefall für die Moralphilosophie.“

Frühjahr 2018: Wilfried R. stirbt in der JVA Celle.