Braunschweig. . Israel feiert seinen 70. Geburtstag. Frieden mit allen Nachbarn genießt der kleine Staat im Nahen Osten noch immer nicht. Dennoch sei die Lage Israels besser als je zuvor, sagt der Nahostkorrespondent Gil Yaron beim Leserforum unserer Zeitung und der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Zugleich stehe Israel aber vor gewaltigen Herausforderungen.

Wie schaffen es die Ultraorthodoxen, in einem so modernen Staat so erfolgreich zu sein?

Das fragt unser Leser Professor Andreas Feige aus Braunschweig.

Die Antwort recherchierte

Es hatte den Anschein, als wollte das iranische Regime die Bedenken Gil Yarons bestätigen. Der Nahostkorrespondent der „Welt“ sprach am Dienstagabend beim Leserforum im Pressehaus unserer Zeitung auf Einladung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft anlässlich von Israels 70. Geburtstag über „Entwicklung und Perspektiven“ des Landes.

Eine dieser Perspektiven ist die Bedrohung durch den Iran. Auf die Frage des Moderators, Armin Maus, Chefredakteur unserer Zeitung, nach dem Atomdeal, meinte Yaron: „Kurzfristig hat das Abkommen den Weg des Iran zu einer Atombombe versperrt. Langfristig hat es aber den Weg zu vielen Atombomben geebnet.“ Denn viele der im Abkommen ausgehandelten Beschränkungen des iranischen Atomprogramms gelten nur für zehn bis 15 Jahre.

Dazu passte die Erklärung des iranischen Regimes gegenüber der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) am selben Abend, dass das Land die Zahl seiner Zentrifugen für die Uran-Anreicherungerhöhen werde. Ein Zentrum zur Produktion solcher Zentrifugen wurde gerade fertiggestellt. Die „New York Times“ wertete die Eröffnung des Zentrums als ein Signal des Regimes, dass der Iran jederzeit die Uran-Anreicherung auf industriellem Niveau aufnehmen könne, sollte sich das Abkommen durch Druck der USA weiter auflösen. Das gleiche gilt für die Zeit nach Auslaufen der Beschränkungen. Entsprechend stellte Yaron fest: „Die eigentliche Angst der Israelis ist nicht, dass der Iran betrügt, sondern dass er sich an die Absprachen hält.“ Nach spätestens 15 Jahren wäre der Weg zu einem nuklearen Arsenal dann frei.

Erst am Sonntag hatte das iranische Staatsoberhaupt, Ajatollah Ali Chamenei, wieder einmal den damit verbundenen Grund zur Sorge geliefert. Per Twitter erklärte er (in englisch): „Unsere Haltung zu Israel bleibt dieselbe, die wir immer hatten. Israel ist ein bösartiger Krebstumor in der westasiatischen Region, der entfernt und ausgelöscht werden muss. Es ist möglich, und es wird geschehen.“

Dennoch sah Yaron „gute Gründe, das Abkommen damals zu unterschreiben“. Es gebe allerdings auch gute Grunde dafür, es nun auf den Prüfstand zu stellen. Denn anders als erhofft, habe der Iran sich in Folge des Abkommens nicht gemäßigt und geöffnet. Im Gegenteil: Das Regime sei noch radikaler geworden und investiere das Geld, das durch die aufgehobenen Sanktionen ins Land komme, in die Unterstützung destabilisierender Kräfte überall im Nahen Osten, allen voran in Terrororganisationen wie Hisbollah und Hamas, die sich die Vernichtung Israels auf die Fahnen geschrieben haben. „Die Hisbollah verfügt über 150 000 Raketen – mehr als so mancher Nato-Staat“ ­– und diese Raketen könnten jeden Ort in Israel erreichen, so der Journalist. In Syrien stünden mittlerweile 80 000 Soldaten unter iranischem Kommando. Eine explosive Situation – das zeigten iranische Raketenangriffe vor einigen Wochen auf israelische Stellungen auf den Golan-Höhen, die das israelische Militär mit einem massiven Gegenschlag beantwortete.

Wie also steht es um die Lage Israels 70 Jahre nach seiner Gründung? Steht das kleine Land weiterhin mit dem Rücken zur Wand – oder besser: zum Mittelmeer – umzingelt von Feinden? Dieser Frage widmete sich Yaron vor 140 Gästen in einer umfassenden Analyse, die zu einem mehr als zweistündigen Parforceritt durch 2000 Jahre Geschichte des Nahen Ostens inklusive Ausblick auf die Zukunft wurde.

Die beste Zusammenfassung liefere ein in Israel erzählter Witz, erklärte Yaron. Demzufolge bat vor einigen Jahren ein Journalist Ehud Barak um eine Einschätzung der Sicherheitslage. Der damalige Verteidigungsminister war verspätet und in Eile und hatte nur Zeit für ein Wort: „gut“. Der Journalist gab nicht locker und bat um wenigstens ein weiteres Wort zur Lage. Daraufhin Barak: „nicht gut“.

Wie zutreffend diese Anekdote ist, verdeutlichte die Analyse Yarons. Gut sei die Situation aus vielerlei Gründen: Der Frieden mit Ägypten 1979 haben den Ring von Feindstaaten rund um Israel durchbrochen, „von der Friedensdividende in Form von Investitionen in Bildung und Infrastruktur statt in Rüstung zehrt Israel bis heute.“ 1994 folgte der Frieden mit Jordanien, und spätestens seit dem arabischen Frühling und dem syrischen Bürgerkrieg sei Israel nur noch von Verbündeten oder von zerfallenden Staaten umgeben, die keine militärische Macht mehr ins Feld führen könnten. Selbst Saudi-Arabien sei durch das Erstarken des Irans mittlerweile schon fast ein Verbündeter Israels ­– wenn auch nicht offiziell.

Darüber hinaus sei Ministerpräsident Benjamin Netanjahu das Kunststück gelungen, gute Beziehungen zu Russland und zu den USA zu etablieren. Der russische Präsident Wladimir Putin weise den Iran in Syrien in die Schranken, weil dort sonst die „produktive Stille“, die russischen Interessen diene, durch Israel bedroht werde.

Und bei US-Präsident Donald Trump habe es fast schon den Eindruck, er hole sich vor jeder Äußerung zum Nahen Osten Tipps von Netanjahu. Trump wiederum gehe bisweilen noch weiter, als selbst die Israelis sich erhofften: „Die Hälfte der israelischen Politiker hatte einen Riesenbammel vor der Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem, konnte den Schritt aber nicht offen kritisieren.“

Selbst bei der bedrohlichen demografischen Entwicklung, die auch unser Leser anspricht, gebe es eine positive Entwicklung. Noch vor zehn Jahren hatte es danach ausgesehen, dass das ultraorthodoxe Milieu, in dem die Männer nicht arbeiten und keinen Wehrdienst leisten, aufgrund einer unglaublichen Fertilitätsrate von sieben Kindern pro Frau bis 2059 auf knapp 30 Prozent der Bevölkerung steigen würde. Zusammen mit dem ebenfalls schnell wachsenden Anteil der muslimischen Araber stellten 2008 diese beiden Gruppen, die Israels Charakter als demokratischer, pluralistischer, liberaler und ­– im Fall der Muslime – jüdischer Rechtsstaat ablehnten, 45 Prozent der Erstklässler des Landes.

Doch die abgeschottete Welt, in der die Charedim (dt. die Gottesfürchtigen) leben, werde mittlerweile „aufgesprengt“ durch das Internet, führte Yaron aus. Derzeit versuche man, eine „koschere Wikipedia“ zu entwickeln – ein Spagat zwischen zwei Welten. „Israel ist ein fürchterlich alter, moderner Staat“, so Yaron. Doch seit einigen Jahren sei die bedrängte Moderne plötzlich wieder im Aufwind: Das Schulsystem der Charedim schrumpft, ebenso das der Nationalreligiösen. Immer mehr Kinder gehen auf säkulare Schulen. Mehr noch: Gegen jeden globalen Trend nimmt in Israel die Geburtenrate mit steigendem Wohlstand und höherer Bildung zu, was zu einer Stärkung des Anteils der liberalen und säkularen Juden führt. Denn das Bruttosozialprodukt des Landes habe sich innerhalb der vergangenen 30 Jahre verdreifacht. „Wer in Israel nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist“, zitierte Yaron den ersten Ministerpräsident Israels, David Ben Gurion.

Und auch bei den muslimischen Arabern gebe es große Fortschritte. „Die häufig als rechteste Regierung aller Zeiten bezeichnete Staatsführung investiert mehr in die arabische Bevölkerung als alle ihre Vorgänger“, führte der Journalist aus, der nicht als Freund der Regierung Netanjahu bekannt ist. Die Folge: Die Zahl der Schulabbrecher in dieser Bevölkerungsgruppe sinkt ebenso wie die Arbeitslosigkeit, mehr arabische Frauen (und mehr charedische Männer) nehmen eine Arbeit auf, das Lohnniveau steigt.

Alles rosig also im Staate Israel? Keineswegs, so der deutsch-israelische Journalist. Die aktuelle Bedrohung bestünde nicht mehr aus regulären Truppen an den Grenzen des Landes, sondern aus „inkompetenten Regimen, die die Probleme ihrer Bevölkerungen nicht lösen können“ und die nach Israel überzuschwappen drohen. So sei es keine Frage, ob sondern wann in Gaza eine Seuche ausbreche. Und da das ungeklärte Abwasser aus dem Küstenstreifen an die israelischen Strände gespült werde, betreffe dies direkt auch den jüdischen Staat.

Armut und politische Instabilität in den Nachbarstaaten sei von der militärischen Bedrohung nicht zu trennen. Die bestehe aus irregulären Armeen wie der Hisbollah, die mit ihrem Arsenal durchaus in der Lage sei, Israel strategischen Schaden zuzufügen – etwa indem sie durch einen Beschuss des internationalen Flughafens die israelische Wirtschaft lähmen könnte. Zugleich seien solche irreguläre Armee schwer zu bekämpfen, da sie nicht eindeutig von der Zivilbevölkerung zu trennen seien. „Im Libanon hat es Israel nicht mit uniformierten Soldaten zu tun, sondern mit dem Bäcker, der morgens Brot backt und abends Raketen abschießt, die er im Keller seiner Bäckerei gelagert hat“, so Yaron.

Staatsversagen betreffe aber nicht nur Terrororganisationen wie die Hamas im Gazastreifen. Ägypten führe einen versteckten Krieg gegen Islamisten im Sinai, die gelegentlich auch Israel beschießen. Darauf könne Israel aber nicht reagieren, weil es sich schließlich um eine „Friedensgrenze“ handle. Und sogar „anständige Diktatoren wie König Abdullah II. von Jordanien“ hätten Probleme. Die Trockenheit von Israels östlichem Nachbarn werde verschärft durch hohe Leitungsverluste von bis zu 50 Prozent und extreme Verschwendung von Wasser durch reiche Clans, die sich der Staatsgewalt entzögen.

Überhaupt Wasser. Israel habe sein Wasserproblem durch Meerwasserentsalzung und die höchste Recyclingquote der Welt zwar scheinbar in den Griff bekommen, doch nach sechs Jahren der Dürre seien die Ermahnungen zum Wassersparen plötzlich zurückgekehrt. Das sei beunruhigend: „Selbst der reichste und effizienteste Staat des Nahen Ostens bekommt das Problem trotz Milliarden-Investitionen nicht gelöst.“ Und in islamistische Regime, die ihre Mittel für einen aussichtslosen Kampf gegen Israel verschwenden, werde niemand Geld für Entsalzungsanlagen investieren.

So kam der Referent zu dem Fazit, dass es Israel 70 Jahre nach seiner Gründung in vielerlei Hinsicht besser gehe als je zuvor. In vielerlei Hinsicht sei es zugleich schlimmer als je befürchtet. Yaron: „Die Lage ist wunderbar – und höchst prekär.“