Hannover. Niedersachsens Kultusminister Tonne spricht über den bürokratischen Aufwand an den Schulen und das Lernen mit digitalen Medien.

Ein fairer Stil wird Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) allseits bescheinigt. An den Herausforderungen von Stundenausfall bis Digitalisierung arbeitet er weiter. Mit Tonne sprachen Armin Maus und Michael Ahlers.

Herr Tonne, wie ist das so als Kultusminister morgens am Frühstückstisch? Ist Bildungspolitik da ein Thema? Sie haben immerhin vier Kinder.

Natürlich ist das ein Thema. Aber nicht so, dass mich meine Kinder mit Fragen überhäufen. Wenn wir morgens frühstücken, hat das wenig mit dem Beruf zu tun. Dann dreht es sich um die Familie.

Nehmen wir mal die Stichworte Stundenausfall und Lehrermangel - Sie haben das Amt des Kultusministers im November 2017 in einer schwierigen Zeit übernommen. Sie halten dagegen und haben zum neuen Schuljahr 2000 Lehrereinstellungen in Aussicht gestellt. Was selten dazugesagt wird: Wieviele Lehrer scheiden denn mit Ende des Schuljahres im Sommer aus?

2000 Stellen haben wir jetzt ausgeschrieben und noch weitere in Reserve. Wir werden, wie schon zum Halbjahres-Termin im Februar, einen positiven Saldo haben. Wir gehen derzeit von ungefähr 1600 Lehrkräften aus, die zum neuen Schuljahr den Landesdienst verlassen. Genau lässt sich das heute nicht sagen. Den Höhepunkt der Pensionierungen haben wir offenbar überschritten.

Sie streben 100 Prozent Unterrichtsversorgung an. Erst mit deutlich über 100 Prozent hätten die Schulen aber eine Art Vertretungsreserve, also genügend Lehrer im Kollegium, um kurzfristigen Ausfall aufzufangen. Davon können die Schulen mit 100 Prozent weiterhin nur träumen...

Diese statistischen Durchschnittswerte besagen für die einzelne Schule relativ wenig....

...zeigen aber zumindest, wie kurz die Decke ist...

Wenn man sich die Realität an den Schulen anschaut, dann fällt, zu viel Unterricht aus. Wenn wir unter 100 Prozentliegen, dann haben wir auch strukturell zu wenig Lehrerstunden, um alle Bedarfe abzudecken. Deswegen brauchen wir mehr Lehrkräfte. Ich will aber keine Erwartungen wecken, die keiner erfüllen kann. Unser erstes Ziel ist, an 100 Prozent heranzukommen im Landesschnitt.

Wie sieht es denn mit der Attraktivität Niedersachsens als Arbeitgeber für Lehrer aus? Es gibt von den Gewerkschaften seit langem Forderungen nach einer höheren Besoldung.

Wir möchten die Attraktivität des Berufs steigern. Das geht auch mit der Besoldung, aber es geht nicht nur mit Besoldung. Wir haben kein Geld im Überfluss und können nicht sofort das gesamte Besoldungsgefüge verändern. Wir müssen uns auch den Strang Belastung und den Strang der Entbürokratisierung ansehen. Aber es tut sich etwas in Niedersachsen. Wir haben an einigen Stellen eine bessere Besoldung erreicht, und wir haben Entlastungen erreicht. So erhalten die Schulleiter kleiner Schulen – meist von Grundschulen – mehr Geld zum neuen Schuljahr. Und wir haben genau für diese Gruppe von Schulleitungen die Verwaltungsarbeit reduziert. Hier setzen wir auch weiterhin an.

Haben Sie ein weiteres Beispiel für zuviel Bürokratie aus dem Alltag?

Man muss ja nur sehen, was Lehrkräfte alles dokumentieren. Ich habe ein Beratungsgespräch gehabt, als meine Tochter in die weiterführende Schule kam. Ausdrücklich gut! Aber ich musste ein zweiseitiges Formular unterschreiben, in welchen Punkten ich beraten worden war. Es geht aber ja nicht darum, dass ein Lehrer zwei Seiten lang etwas ankreuzen muss. Es geht darum, dass die Lehrkraft einem sagt, was das Kind gut kann und wo es Unterstützungsbedarf hat. Der Bogen ist jetzt in einem Ordner abgeheftet. Und wie oft müssen eigentlich Fördergutachten sein? Muss für jedes Kind ein Beobachtungsbogen gemacht werden? Das kann man an vielen Stellen im Bildungssystem finden. Wir müssen den Mut haben, sowas auch mal wegzupacken.

Es geht ja auch um die Anerkennung des Berufsstandes. Besonderes Engagement bleibt sehr oft Privatsache des Lehrers. Bei Klassenfahrten wird so getan, als ob der Lehrer, der eine Woche rund um die Uhr im Einsatz ist, gemütlich zu Hause im Bett schläft.

Klassenfahrten sind ein Beispiel: Da gab es zwar vor einigen Jahren Verbesserungen, wie eine höhere Kostenerstattung und mehr Zeitausgleich, aber wir wollen uns das ständig anschauen, klar. Auch bei Klausurkorrekturen haben wir eine hohe Belastung. Das müssen wir uns sicher Stück für Stück vornehmen. Die Botschaft muss ja sein: es wird wertgeschätzt, was du machst. Es kann aber nicht sein, dass alles, was nicht klappt, bei den Lehrern abgeladen wird. Die Hauptverantwortung trägt das Elternhaus. Ein Beispiel: Neulich bekam ich eine Beschwerde auf den Tisch, wonach ein Mädchen traumatisiert aus der Schule gekommen sei. Sie habe einen grausamen Film schauen müssen. Es kam heraus, dass der Film „ Die lustige Welt der Tiere“ war. Aber es wurde natürlich eine Riesenmaschinerie in Gang gesetzt, um das aufzuklären. Nun sagt die Schule immer vorher Bescheid, wenn ein Film gesehen wird. Das erschwert Schulen auch unnötig die Arbeit. Hier sind natürlich auch die Eltern gefragt.

Sie sprechen von Entlastungen. Was ist denn mit denn mit der entscheidenden Arbeitszeitverordnung? Die Lehrergewerkschaft GEW klagt wegen der Belastung an Grundschulen. Dort ist mit 28 Stunden Unterricht pro Woche die höchste Regelstundenzahl vorgegeben. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hat schon 2015 eine Überarbeitung der Arbeitszeitverordnung angemahnt. Packen Sie das nun an oder nicht?

Wir packen die Arbeitszeitverordnung an. Zur Arbeitszeit wurde eine Kommission eingesetzt. Sie wird einen Abschlussbericht vorlegen. Wir rechnen im Spätsommer oder Frühherbst damit. Dann gehen wir in das Erarbeiten einer neuen Arbeitszeitverordnung. Wir müssen dann aber sehen, wie wir das umsetzen. Auch das wird nur in Schritten funktionieren.

Beim Thema Digitalisierung scheint jedes Konzept zu fehlen...in den USA korrigieren angeblich Computerprogramme schon Aufsätze. Hier haben viele Schulen noch nichtmal W-LAN.

Ich will keine Digitalisierung von Schule, ich möchte, dass wir das Lernen mit digitalen Medien deutlich verstärken. Kinder sollen sicher mit mobilen Endgeräten umgehen können, das hat mit Medienkompetenz und Medienbildung zu tun. Und die Vorteile des individuellen Lernens wollen wir stärker ermöglichen, auch eine stärkere Differenzierung. Mit dem Landeskonzept Medienkompetenz in Niedersachsen haben wir auch eine inhaltliche Grundlage. Um weiter zu kommen müssen wir aber erst einmal wissen, was der Bund mit seinen zugesagten Digitalisierungspaktmitteln macht.

Wie geht es also weiter bei der Digitalisierung?

Die Zukunft wird weniger darin liegen, dass wir Computerräume einrichten. Sondern, wie digitale Medien in den Unterricht einfließen. Dafür brauchen wir auch Schul-Cloud-Lösungen. Dafür haben wir Kooperationsvereinbarungen geschlossen. Und: Wie bekommen wir Fort- und Weiterbildung vermittelt? Wir müssen insgesamt sehen, wohin sich Bildung weiterentwickeln soll. Ich werbe daher sehr für das Projekt „Bildung 2040“: Im Dialog über die Tagespolitik hinaus darüber reden, welche Anforderungen wir an eine gute Bildung haben und welche Rahmenbedingungen dafür notwendig sind.

War das nicht ein Problem der Bildungspolitik in der vorigen Wahlperiode, alles zugleich machen zu wollen und sich zu verzetteln?

Wenn wir nicht offen diskutieren und uns verständigen , dann drohen wir uns zu verzetteln. Die Debatten der Vergangenheit waren immer Mangeldebatten. Damit können wir ein Bildungssystem nicht positiv weiterentwickeln. Ich war neulich in Hannover in einer Schule im Französischunterricht, das war sehr positiv und innovativ. Die Schüler waren die ganze Stunde in Bewegung, die haben mitgestaltet. Die Lehrerin hat das angeleitet. Das hatte mit dem, was ich als Schüler erlebt habe, nicht mehr viel zu tun.

Sie geben die vorschulische Sprachförderung aus der Grundschule in die Kitas. 14000 Lehrerstunden oder 500 Vollzeit-Lehrer sollen so für den Unterricht frei werden. Sind das nicht nur Zahlenspiele? Die Kitas haben doch gar keine Zeit, das noch bis zum neuen Kita-Jahr vorzubereiten....

Das sind keine Zahlenspiele und es geht auch nicht um eine neue Aufgabe für die Kita-Fachkräfte. Es geht um die sogenannte alltagsintegrierte Sprachförderung, die die Erzieher Tag für Tag machen. Es geht nicht um individualisierte Sprachförderung. Wir reden außerdem über eine Stunde pro Woche pro Kind. Wir geben jetzt die Stunden, die zwar auf dem Papier standen, aber oft mit Reibungsverlusten einhergingen, in die Kita-Gruppen. Es gibt dann keine Stunde „Sprachförderung“ auf dem Plan der Kitas. Es kommt aber zur Sprachförderung zusätzliches Personal in die Gruppe, dafür stellen wir mehr als 32 Millionen Euro jährlich bereit. Das kann eine Teilzeitkraft sein, die aufstockt. Oder ein Träger sagt, wir holen eine Fachkraft mehr oder das Geld fließt für Qualifizierungen.

Wenn es die zusätzlichen Erzieherinnen gibt. 1500 Erzieher sollen ja landesweit fehlen...

Deshalb verändern wir die Ausbildung: Mehr Attraktivität, kein Qualitätsverlust, das sind die Ziele. Wir wollen dazu mehr Plätze in der Vollzeitausbildung schaffen und Art dualisierter Variante einführen. Dabei gehen die Erzieher während der Ausbildung schon in die Kitas und können auch ein Vergütung erhalten. Wir erleichtern außerdem den Quereinstieg.

Es gibt eine Zunahme angezeigter Gewalttaten an Schulen. Schauen die Schulen genauer hin als früher?

Es gilt eine Null-Toleranz-Strategie. Straftaten müssen angezeigt werden! Das wird von den Schulen genau beachtet. Vergleichsweise neu ist allerdings Cyber-Mobbing. Wir müssen schauen, wie wir Prävention weiter verstärken. Wir müssen auch Tendenzen von Ausgrenzung entgegenwirken. Wir haben Projekte wie die Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage, die sehr wichtig sind.

Wird immer mehr getan, weil es immer nötiger wird ?

Um das zu beantworten, fehlt mir ein repräsentativer Querschnitt.

Mit den vielen Flüchtlingen, die besonders 2015 kamen, hat sich Schule ja auch verändert. Wobei es ja gut ist, dass die in die Schulen kamen. Wie ist die Situation jetzt?

Die Schnelligkeit der Zuwanderung 2015 hat das Schulsystem in den Grundfesten erschüttert, weil so viel schnell gelöst werden musste. Die Flüchtlingskrise aber auch die innereuropäische Migration fordern von den Lehrkräften insbesondere bei der Sprachförderung viel ab. Wir müssen die Sprachförderung da gewiss noch einmal einer Revision unterziehen und gucken, ob die Angebote noch passen. Ganz sicher ist die Schülerschaft heterogener geworden.