Hannover. Schock-Effekt oder Menschenverachtung? Die Museen in Niedersachsen haben moralisch angreifbare Objekte in ihren Sammlungen.

Unser Leser Benjamin Meyen fragt auf unseren Facebook-Seiten:

Warum sollte man derlei nicht zeigen? Gehört doch zum Leben. Außerdem ist es lehrreich.

Die Antwort recherchierte Svenja Paetzold-Baelz

Obwohl die Deckenlampen beim Eintreten leuchten, bleibt es dämmrig. Raumhohe Schränke schlucken das Tageslicht, das durch die Jalousien fällt. Drei kleine Pappschachteln liegen im Halbdunkel im Regal in der Ecke. Dort werden sie bleiben, ungeöffnet, der Inhalt verborgen vor Blicken der Öffentlichkeit.

In den drei Pappschachteln liegen die Überreste von mehreren Menschen. Wir sind im Magazin des Landesmuseums Hannover. In den drei Kartons lagern Ahnenschädel aus Papua Neuguinea, also menschliche Schädel mit einem Tongemisch überzogen, um plastische Gesichter zu erzeugen. Selbst ausgepackt wären die Knochen gar nicht sichtbar. Trotzdem – und trotz Lehr-Effekts, den auch unser Leser anspricht – werden die Stücke nie der Öffentlichkeit gezeigt werden.

„Ich stelle grundsätzlich keine menschliche Überreste aus“, sagt Alexis von Poser, Kurator der ethnologischen Sammlung in Hannover. Seine Position: Teile dessen, was einst ein Mensch war, gehören nicht in eine Vitrine. Zumindest nicht in der Ethnologie. Etwa 20 000 Kunst- und Alltagsgegenstände aus Amerika, Afrika, Ozeanien und Asien befinden sich in der völkerkundlichen Sammlung Niedersachsens. Darunter viele, in denen Teile von Toten stecken. „Das wird seit mehreren Jahren so gehandhabt“, sagt von Poser. Früher war das anders. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten waren Schädel, Gebeine und sogar die sogenannten „Schrumpfköpfe“ Teil völkerkundlicher Ausstellungen. „Die Zeiten, in denen solche Exponate in Kuriositätenkabinetten gezeigt wurden, um Schockmomente und Ekel zu erzeugen, sind seit den 1960er Jahren vorbei“, sagt Wiebke Ahrndt, Direktorin des Übersee-Museums in Bremen und Vizepräsidentin des Deutschen Museumsbundes.

In einer anderen Abteilung des Landesmuseums liegt ein zusammengekauerter Mann, die Hände vor der Brust verschränkt. Reste von ledriger Haut spannen sich über seine Knochen, die Augenhöhlen sind leer. Wohl mehr als 1600 Jahre ruhte der „Rote Franz“ in einem Moor im Emsland, heute in der archäologischen Ausstellung. Auch hier ist es schummrig. Doch die Überreste des „Mannes von Neu Versen“, wie die Moorleiche offiziell heißt, sind durch einen schmalen, klaren Streifen im sonst milchigen Glas der Vitrine für Besucher sichtbar. Die Atmosphäre einer Grabkammer vermittelt der beengte Raum schon eher. Das ist auch beabsichtigt. „In der Archäologie ist uns wichtig, die Funde respektvoll in ihrer Ausgrabungssituation zu zeigen“, erläutert Florian Klimscha, Kurator der Abteilung. Doch ein Toter, selbst im Fundkontext, begraben in einer Vitrine – was heißt da respektvoll? „Im Vordergrund steht der Wissensgewinn für den Museumsbesucher. Wir bilden mit der Art der Präsentation die Vielfalt früherer Begräbnisbräuche ab, statt mit geisterbahnähnlichen Inszenierungen Effekte zu heischen“, betont Klimscha. Bewusst erzähle man die Geschichte eines Menschen. Denn ohne menschliche Überreste komme archäologische Forschung nicht aus. „Knochen sind für uns grundlegende Quellen“, sagt Klimscha. „Dass noch Menschen leben, die einen persönlichen Bezug dazu haben, kommt sehr selten vor. So sind die ethischen Bedenken beim Ausstellen hier weniger groß.“ Anders in der Ethnologie: Sie erforscht die noch existierenden ethnischen Gruppen und indigenen Völker. „Es ist es nicht unmöglich, dass jemand nach Deutschland reist, nur um – locker formuliert – Teile seiner Oma in einer Vitrine zu sehen. Das darf nicht passieren“, sagt Ägyptologe und Mumienexperte Oliver Gauert am Roemer-und-Pelizaeus-Museum in Hildesheim. Er erklärt: „Viele ethnologische Stücke stammen außerdem aus Glaubenskontexten, die sterblichen Überresten noch lange Zeit eine ‚Beseeltheit‘ zusprechen.“ Solche Objekte könnten in ihrer Herkunftskultur noch lange religiös aufgeladen sein. „Sie in Vitrinen zu zeigen ist für diese Menschen undenkbar.“

Natürlich empfinde nicht jedes Volk so, sagt Wiebke Ahrndt. Sie rät, im Umgang mit menschlichen Überresten immer den Einzelfall zu bewerten. Der Respekt, nicht nur vor den einstigen Menschen, sondern auch gegenüber den Glaubensvorstellungen, die Kulturen damit verbinden, müsse im Vordergrund stehen. So sieht es auch der Ägyptologe. „Wir wissen, dass die Toten des Alten Ägypten extra mumifiziert wurden, um für die Nachwelt erhalten zu bleiben“, sagt Gauert. „Einige Kulturen Südamerikas mumifizierten ihre Verstorbenen sogar, um sie später in Prozessionen und religiösen Festen zu zeigen. Wir gehen vor diesem Hintergrund locker mit dem Ausstellen sterblicher Überreste um.“ Unter den Kollegen der verschiedenen Abteilungen in Hildesheim würde das Thema aber diskutiert. „Auch unsere ethnologische Abteilung verzichtet auf menschliche Überreste in der Ausstellung.“

Diese Haltung prägt längst nicht alle deutschen Museen. So finden sich in der Dauerausstellung des Städtischen Museums Braunschweig ein bemalter Schädel aus Bayern und eine Lamatrommel aus Tibet, die aus zwei Schädeldecken besteht. Man orientiere sich bei der Behandlung an den Empfehlungen des Deutschen Museumsbundes und bemühe sich, „die Würde der Toten als gewesene Menschen“ zu garantieren, heißt es in einer Erklärung des Museums. Vor dem deutschen Zivilrecht werden menschliche Überreste ohnehin als Sache behandelt. Und auch Alexis von Poser macht Ausnahmen: „Menschenzähne oder -haar könnten von lebenden Personen stammen und sind Sonderfälle.“

Oft ist bei ethnologischen Objekten die Geschichte ihres Erwerbs brisant. Viele Stücke gelangten zur Kolonialzeit in die Museen. „Immer mehr indigene Gruppen fordern das kulturelle Erbe zurück“, erklärt von Poser. Ahrndt ergänzt: „Die UN-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker hat die Diskussion verstärkt.“ 2007 verabschiedeten die UN die Erklärung, in der das Recht der Indigenen auf Entschädigung für das anerkannt wird, was ihnen ohne ihre freie Zustimmung genommen wurde. Dazu gehört auch das Recht auf Rückforderung von Kulturgut, in dem menschliche Überreste verarbeitet sind.

So tauchten deutsche Museen zuletzt mit Rückgabeaktionen in der Presse auf: Das Überseemuseum in Bremen an die Moriori und Maori aus Neuseeland, das Museum für Völkerkunde in Dresden an Hawaii, die Berliner Charité an Namibia... Auch das Landesmuseum Hannover war betroffen. Ende Oktober gab es die Gebeine einer indigenen Australierin an die Familiengruppe der Lama Lama vom Volk der Yintanga aus Australiens Nordosten zurück. Die sterblichen Überreste waren 1909 nach Hannover gelangt, als ein deutscher Minenpächter sie ohne Erlaubnis mitgebracht und dem Museum überlassen hatte. „Die Zurschaustellung in Museen ist für indigene Völker oft nur die Spitze des Eisberges“, sagt von Poser. „Wichtiger ist den Menschen, die Überreste ihrer Ahnen wieder im eigenen Land zu wissen.“ So hatte es auch ein Angehöriger der Lama Lama gesagt: Der Geist der Verstorbenen habe nicht nach Hause heimkehren können. Erst das richtige Bestattungsritual in Australien habe dies gewährleistet.

Die drei Ahnenschädel des Landesmuseums hat niemand zurückgefordert, keine Familie wartet auf die Heimkehr ihrer Vorfahren. Trotzdem - ihr Erwerbskontext und der Respekt vor ihren Schöpfern rechtfertigen die Frage, ob sie in eine Vitrine gehören. Und diese Frage ist Teil der Aufarbeitung nationalsozialistischer und kolonialzeitlicher Vergangenheit, der sich Museen verstärkt stellen.

„Die Verbrechen gegen Indigene waren oft grausamer, als der Öffentlichkeit bewusst ist“, sagt von Poser. „Die Kolonialzeit weist Kontinuität zum ’Dritten Reich’ auf, etwa durch menschenverachtendes Rassendenken. Anthropologische Sammlungen wurden damals auch angelegt, um diese Rassentheorien zu belegen.“

Das Thema ist brisant, wird bundesweit zunehmend diskutiert. So manche Institution steht für die fragwürdigen Erwerbsumstände ihrer ethnologischen Exponate in der Kritik. Zum Beispiel die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, deren Sammlung im Rahmen des Umzugs in das neue Humboldt-Forum in den Fokus geriet. Die neu gefundene Sensibilität könnte die Museumslandschaft verändern. „Human Remains sind nicht mehr selbstverständlicher Teil der Sachen, die man ausstellt“, sagt von Poser. Und Klimscha ergänzt: „Irgendwann könnten menschliche Überreste auch aus archäologischen Ausstellungen verschwinden.“