Braunschweig. Kritiker sehen in den Entschädigungsforderungen der polnischen Regierung ein Manöver zur Ablenkung von Kritik aus der EU.

Unser Leser Kai Haller aus Braunschweig fragt:

Angesichts der polnischen Reparationsforderungen frage ich mich: Wurden die deutschen Gebiete, die Polen nach dem Zweiten Weltkrieg zugesprochen wurden, in die Verhandlungen nach dem Krieg als Werte einbezogen?

Die Antwort recherchierte Johannes Kaufmann

Die unvorstellbare Zahl von einer Billion US-Dollar (rund 840 Milliarden Euro) steht bereits im Raum. Auf diese Summe schätzte der polnische Innenminister Mariusz Blaszczak Anfang September die Reparationsforderungen, die Polen wegen der Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs an Deutschland stellen könnte. „Vielleicht sogar noch mehr, genaue Berechnungen wurden mehr als 70 Jahre lang nicht gemacht.“

Eine Woche später bestätigte ein Gutachten des polnischen Parlaments Sejm, dass Polen Reparationen zustünden, ohne dabei eine konkrete Summe zu nennen. Die Bundesregierung wiederum weist dies zurück. Polen habe 1953 auf weitere Forderungen verzichtet und dies später mehrfach bestätigt, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert.

Losgetreten hatte die Diskussion der Vorsitzender der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), Jaroslaw Kaczyñski. Am 1. Juli 2017 hatte er bei einer Versammlung der Vereinigten Rechten im Städtchen Przysucha verkündet: „Polen hat niemals auf diese Entschädigungen verzichtet. Wer dies meint, befindet sich im Irrtum.“

Doch welche Rolle spielen verlorene Territorien in dieser Frage? Der Zweite Weltkrieg hat die Landkarte Europas verändert. Nach dem deutschen Einmarsch in Polen am 1. September 1939 hatte Deutschland sich den Westen Polens einverleibt. Die Sowjetunion (UdSSR) besetzte den Osten. Mit der Kapitulation Deutschlands 1945 wurden diese Eroberung nicht nur rückgängig gemacht, es fielen auch die sogenannten deutschen Ostgebiete Pommern, Schlesien und Ostpreußen an Polen – insgesamt etwa ein Viertel der Fläche des Deutschen Reichs.

„Die Gebietsabtretungen wurden von Polen niemals als eine Kompensation für eigenes Leid und Schäden angesehen“, sagt der aus Polen stammende Literaturwissenschaftler Marcin Wiatr vom Georg Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung in Braunschweig. Denn die Gebiete habe Polen von der Sowjetunion als Ausgleich für deren Annexion Westpolens erhalten. „Die Polen konnten somit darin keinen ,Gewinn‘ sehen“, so Wiatr.

Allerdings habe es für den polnischen Verzicht auf spätere Reparationsleistungen eine Rolle gespielt, dass die DDR und später das vereinigt Deutschland die Oder-Neiße-Grenze anerkannte und somit keinen Anspruch auf die alten Ostgebiete erhob.

Laut Krzysztof Ruchniewicz, Direktor des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien der Universität Breslau, „wird in der polnischen Tagespolitik nach wie vor permanent die deutsche Karte gezogen, indem man auf das kollektive Gedächtnis an die deutsche Besatzung zurückgreift, die Ermordung polnischer Staatsangehöriger und die gewaltigen materiellen Verluste Polens.“ Dabei sei „kein noch so hergeholtes Argument zu schade“, schreibt der Historiker im Magazin „Dialog“ des Bundesverbands der Deutsch-Polnischen Gesellschaft.

Schon einmal sei das Thema hochgekocht, als in Deutschland über das Gedenken an die Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten diskutiert wurde. „Die polnische Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Damals wurde das Thema deutscher Reparationen erstmals ins Spiel gebracht worüber 2004 im Sejm heftig debattiert wurde.“ Erst eine Erklärung des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder, dass Deutschland Eigentumsansprüche deutscher Bürger nicht unterstützen werde, habe die Wogen geglättet.

Man habe es mit „dem unleugbaren und schmerzhaften Umstand wirklicher Verluste zu tun, mit tiefen Wunden, die nahezu jeder polnischen Familie geschlagen wurden“, so der Historiker. Doch die Debatte werde bestimmt von Ungenauigkeiten und Halbwahrheiten. So werde zumeist unterschlagen, dass die polnischen Ansprüche durch die Sowjetunion vertreten wurden. Gemäß der Abschlusserklärung der Potsdamer Konferenz aus dem Juli 1945 erhielt die Sowjetunion zehn Milliarden US-Dollar aus dem deutschen Vermögen. Davon sollte sie 15 Prozent an Polen weitergeben.

„Zugleich verpflichtete sich Warschau, an die UdSSR aus den schlesischen Gruben Kohle zu weit unter Marktwert liegenden Preisen zu liefern, eine für Polen sehr nachteilige Vereinbarung“, schreibt Ruchniewicz. Zudem habe sich Moskau nicht an die Vereinbarungen gehalten, „indem es in den vormaligen reichsdeutschen Ostgebieten, die Polen zuerkannt waren, massenhafte Demontagen in Fabriken und an Eisenbahnanlagen durchführte.“

Nach weiteren Senkungen der Reparationsanteile erließ die Sowjetunion der DDR schließlich am 22. August die restlichen Zahlungen. Die polnische Regierung gab am Folgetag eine ähnliche Erklärung ab. Insgesamt überwies die DDR laut einem 1957 unterzeichneten Protokoll Reparationen in Höhe von 3081,9 Millionen US-Dollar an die UdSSR, von denen Polen 7,5 Prozent erhielt.

Endgültig sei die Reparationsfrage im Zwei-Plus-Vier-Vertrag vor der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 geklärt worden, argumentiert Ruchniewicz: „Zwar ging der Vertrag nicht direkt darauf ein, aber er umfasste eine abschließende Regelung aller aus dem Zweiten Weltkrieg rührenden und Deutschland betreffenden Fragen.“ Polen sei durch die Unterschrift der Vereinten Nationen vertreten worden.

Die aktuelle polnische Regierung zweifelt dies jedoch an und schreibt den Verzicht Polens auf Reparationen im Jahr 1953 dem sowjetischen Druck zu.

Ruchniewicz glaubt indes nicht, dass es der Regierung überhaupt um Reparationen geht. „Die antideutsche Rhetorik soll offenkundig die wirklichen Probleme maskieren, so die von den europäischen Institutionen nachdrücklich eingeforderte Einhaltung der Grundwerte der EU, nämlich Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Solidarität“, schreibt er und zitiert den Völkerrechtler Wladyslaw Czaplinski: „Es ist völlig unklar, welchen Rechtsweg wir beschreiten sollten. Wenn wir gegen einen Punkt der Potsdamer Abschlusserklärung Bedenken vorbringen, dann ziehen wir deren Gesamtheit in Zweifel, also auch die Grenzbeschlüsse.“ Die ehemaligen Ostgebiete könnten also plötzlich doch wieder eine Rolle spielen.