Berlin. Flüchtlinge verschwinden spurlos, immer mehr abgelehnte Asylbewerber klagen vor Gericht, Abschiebungen scheitern.

Zwei Meldungen aus einem einzigen Tag: Die Zahl der Schutzsuchenden in Deutschland hat sich binnen zwei Jahren von 800 000 auf 1,6 Millionen verdoppelt, die der an Verwaltungsgerichten anhängigen Asylverfahren in zwölf Monaten verfünffacht. Mitten in den Sondierungsgesprächen führen diese Zahlen der Union, FDP und Grünen eine Problemzone vor Augen: die Asylpolitik. Es ist ein großes Streitfeld. Alle wissen, dass beim Asyl etwas schiefläuft, kennen die Reizzonen: der staatliche Kontrollverlust, der Abschiebekrampf, die Konflikte um Familiennachzug und Integration.

Kontrollverlust

Im Herbst 2015 hatten die Behörden zeitweise den Überblick verloren, wie viele Menschen ins Land kamen. Längst ist die Registrierung so verbessert, dass jeder neue Asylantrag im Schnitt in zwei Monaten bearbeitet wird. Erstmals seit Januar 2014 liegt

die Zahl der offenen Verfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) unter 100 000 – für Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) ein Erfolg. Sein Staatssekretär Günter Krings (CDU) mahnt aber, „wir müssen die Zuwanderer nicht nur registrieren, sondern schon gleich bei ihrer Ankunft auch identifizieren“.

Da ist sie wieder, die Angst vor Kontrollverlust. Wenn heute davon die Rede ist, sind gleichwohl weniger die Verwaltungsverfahren gemeint. Kontrollverlust droht, wenn die Bundespolizei wie im Sommer 48 illegale Flüchtlinge an der Grenze abfängt, aber sie am nächsten Tag aus dem Aufnahmelager in Eisenhüttenstadt (Brandenburg) verschwunden sind. Kontrollverlust droht auch, wenn wie zu Halloween in Köln oder Berlin Männergruppen vermehrt arabischen und nordafrikanischen Aussehens randalieren und die Polizei nur Platzverbote ausspricht. Auf die Angst vor Kontrollverlust zielt die „Bild“-Meldung vom Donnerstag ab, wonach 30 000 ausreisepflichtige Asylbewerber verschwunden seien. Die Zeitung hat die Zahl der Ausreisepflichtigen und der Leistungsempfänger unter ihnen abgeglichen und aus der Differenz geschlossen, 30 000 seien abgetaucht.

Der Vergleich hinkt, weil nicht jeder Ausreisepflichtige Leitungsempfänger sein muss. Fakt ist: Die Behörden wissen von Tausenden nicht, wo sie sind; unter uns oder wieder in ihrer Heimat. Schon vor Ausbruch der Flüchtlingskrise taxierte der damalige NRW-Arbeitsminister Guntram Schneider (SPD) die Zahl der Illegalen in Deutschland auf 500 000 Menschen. Hierzulande wird das Problem fast totgeschwiegen.

Schwierige Abschiebung

Es gibt einen nachvollziehbaren Grund abzutauchen: um sich einer Abschiebung zu entziehen. Für die Betroffenen ist sie der GAU. Es ist kein Zufall, dass sich Kirchen und Menschenrechtsgruppen für Geflüchtete einsetzen. Was regelkonform ist, kann dennoch moralisch angreifbar sein.

Die Zahl der Ausreisepflichtigen betrug laut Innenministerium zum 31. August dieses Jahres 228 833. Davon haben 162 131 einen Duldungsstatus – über 60 000 müssten also ausreisen. Im ersten Halbjahr wurden rund 12 500 Migranten abgeschoben. Über 30 000 sollen bis September freiwillig zurückgekehrt sein. Für die Abschiebung sind die Bundesländer zuständig, aber der Bund kann bei der Beschaffung von Passersatzpapieren und mit der Bundespolizei helfen. Der Aufwand ist gewaltig. Die 14 Afghanen, die am 24. Oktober von Leipzig in ihre Heimat zurückgeflogen sind, wurden von 58 Polizisten,

einer Ärztin und einem Dolmetscher begleitet. Ein Kraftakt. Und obendrein teuer. Kein Wunder, dass der Bund auf freiwillige Rückkehr(prämien) setzt und dass die Union für grenznahe Einreisezentren eintritt.

Strittiger Familiennachzug

Der Familiennachzug wurde im März 2016 für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz für zwei Jahre ausgesetzt. Die nächste Bundesregierung muss entscheiden, ob sie die Regelung auslaufen lässt oder verlängert. Die Zahl der potenziellen Nachzügler kann niemand genau sagen. Das Bamf tendiert dazu, mehr Geflüchteten den niedrigeren (subsidiären) Status zu geben – die wehren sich und ziehen vor Gericht. Die Zahl der anhängigen Asylverfahren hat sich innerhalb eines Jahres zum 30. Juni auf mehr als 320 000 Verfahren verfünffacht, wie aus einer Anfrage der Linkspartei an das Innenministerium hervorgeht. Es stellt sich die Frage, ob die Aussetzung kontraproduktiv ist. „Wir finden, die Familien gehören zusammen, sonst kann man sich hier nicht integrieren“, sagte Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Krings erwidert, „beim Familiennachzug können wir nicht großzügiger sein als andere EU-Staaten.“

Scheiternde Integration

Nach einem Bericht der „Nürnberger Nachrichten“ erfüllt das Bamf bei den Integrationskursen nicht sein Soll. Im September gab es nur 28 000 Kurseintritte, gefordert waren dem Bericht zufolge 56 000. Lediglich 3000 Teilnehmer absolvierten ihren Kurs im September erfolgreich. Den stärksten Aufwand betreibt der Staat bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund geht davon aus, dass deren Unterbringung dieses Jahr zwischen vier und 4,8 Milliarden Euro kosten wird.

Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) fordert, die

Kosten zu senken. Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, unterstützt ihn indirekt. Das Jugendhilferecht sei weder auf die große Zahl und die Bedürfnisse der Unbegleiteten zugeschnitten, „die meist 16- und 17-jährigen jungen Männer gelten in ihren Herkunftsländern schon als Erwachsene“. Sie bräuchten Sprachunterricht, Ausbildung und eine betreute Wohngruppe – aber oft „nicht das sozialpädagogische Maximalprogramm“.

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