Heere. Die SPD verliert seit längerem bundesweit an Zustimmung. In Heere sind ihre Ergebnisse trotzdem phänomenal. Warum ist das so? Ein Ortsbesuch.

Auf den ersten Blick deutet nichts darauf hin, dass sich hier im Landkreis Wolfenbüttel eine kleine Herzkammer der deutschen Sozialdemokratie befindet. Düstere Fabrikhallen und rauchende Schornsteinschlote sucht man in Heere vergebens. Ein großer Spediteur am Ortsausgang, Felder, Äcker und Traktoren prägen das Bild. Kirche, Haupt- und Landstraße, im Vorgarten die Deutschlandfahne mit Niedersachsen-Roß. Das italienische Schnell-Ristorante „Roma“ hat mittags noch zu, hinter dem Anwesen grasen zwei Pferde. Am Horizont, weit genug weg, um es nicht als störend zu empfinden, hält die neue Form der Energiegewinnung Einzug. Ein Windpark zerteilt nahe der Bundesstraße 6 die Landschaft.

Mit Blick auf die Bundestagswahlen seit 1990 kann man Heere durchaus als politisches Phänomen bezeichnen. Der Ort stellt eine Parteihochburg dar. Während die Union in Bayern nahezu unschlagbar ist, zeigt sich nahe der Innerste eine weit überdurchschnittliche Zustimmung zur SPD – und das trotz der Agenda 2010, die die Partei bis heute spaltet, und trotz einer fortschreitenden Sozialdemokratisierung der CDU, die kein Parteienforscher in Deutschland bestreiten würde.

Auch wenn sich die Kurvenläufe ähneln, ist die überdurchschnittliche Zustimmung der Heerer Bevölkerung zur SPD offensichtlich.
Auch wenn sich die Kurvenläufe ähneln, ist die überdurchschnittliche Zustimmung der Heerer Bevölkerung zur SPD offensichtlich.

Für Heere zeigen die Daten des Bundeswahlleiters aus dem Jahr 2014: Gemessen am Zweitstimmenergebnis liegt die Gemeinde auf Platz zehn im bundesweiten Vergleich. Beim Wahlsieg Schröders 1998 erhielt die SPD fast 70 Prozent. Und elf Jahre später? Während im Bund mit 23 Prozent das schlechteste Ergebnis in der Parteigeschichte eingefahren wurde, erhielten die „Roten“ noch beachtliche 49,8 Prozent.

Nur in einigen Gemeinden im äußersten Nordwesten Niedersachsens und der Gemeinde Kundert im Taunus (Platz eins) ist die Affinität zur SPD noch höher. Zum Vergleich: Die Ruhrgebiets-Metropolen spielen in dieser Hochburgen-Analyse auf den vorderen Plätzen keine Rolle. Herne liegt auf Rang 35, Gelsenkirchen auf 48 und Duisburg auf 63. Essen hat es nicht einmal unter die Top 100 geschafft. Heere stellt also eine Ausnahme dar, gerade, wenn man das regionale politische Umfeld betrachtet. In den Städten und Kreisen, die die Gemeinde umschließen, hat die CDU durchaus Erfolge vorzuweisen. So sitzen in Salzgitter mit Frank Klingebiel und in Goslar mit Oliver Junk zwei „Schwarze“ im Rathaus. Und auch in Hildesheim ist mit Ingo Meyer ein Parteiloser und kein Sozialdemokrat im Amt.

Bettina Eisenbarth, SPD-Ortsvorsitzende und stellvertretende Bürgermeisterin von Heere, ist von den Zahlen überrascht, zumindest sagt sie das: „Ich wusste nicht, dass wir so weit vorne liegen.“ Geahnt haben wird es die Frau schon, die es 1998 zusammen mit ihrem Mann von Salzgitter nach Heere zog. Denn Indikatoren dafür, dass die SPD auf eine breite Unterstützung in der Bevölkerung zählen kann, gibt es seit längerem. Im Gemeinderat beispielsweise. Da sind die Mehrheitsverhältnisse deutlich. Von den insgesamt elf Sitzen haben die Sozialdemokraten acht inne, die CDU seit der Kommunalwahl 2016 immerhin drei. „Die haben zugelegt“, sagt die 47-Jährige.

Die, die Eisenbarth an diesem Tag vor der Sporthalle des Ortes trifft, sind entweder SPD-Mitglieder oder zumindest Sympathisanten. Und sie sind mitverantwortlich dafür, dass das Vereinsleben in Heere funktioniert. Und das ist ausgeprägt. So kommen auf die rund 1100 Einwohner laut Eisenbarth 17 Vereine. Neben sozialen Einrichtungen wie der Awo und dem Sozialverband SoVD gibt es im Ort einen Schützen-, einen Bogen-, Radsport- und Fußballverein. Daneben treffen sich regelmäßig die Landfrauen, der Frauenhilfeverein, der Musikverein und der Männergesangsverein. Eine Freiwillige Feuerwehr gibt es ebenso wie den Verein „Vielfalt Innerste“, der sich unter anderem um die 25 Flüchtlinge im Ort kümmert. „Eine Zeit lang bestand die Sorge, dass viele junge Männer nach Heere kommen würden. Das hat die Bevölkerung verunsichert. Aber die Bereitschaft zu helfen war größer, alle Vereine haben angepackt. Und als dann klar war, dass hier überwiegend Familien mit Kindern in Heere aufgenommen werden, wurden kritische Stimmen weniger“, sagt Eisenbarth. Derzeit lebten drei Familien aus dem Irak und Afghanistan im Ort. Hinzukämen neun alleinreisende Männer. „Von denen bekommen wir aber kaum etwas mit. Die leben in einem Haus und gehen teilweise einer geregelten Beschäftigung nach, beispielsweise bei Coca Cola in Hildesheim.“

Auch Detlef Achilles hat ein rotes Parteibuch. Auch er führt in Heere einen Verein. Er ist Vorsitzender des Treckervereins. Der Zwei-Meter-Mann bestätigt das, was Eisenbarth sagt. „Jeder hilft hier jedem. Die Solidarität unter den Menschen ist enorm. Als die Flüchtlinge da waren, hatten alle einen Tag später ein Fahrrad vor der Tür stehen.“

Achilles ist ein typisches Beispiel für viele in Heere. Sie haben für sich und ihre Familien den Ort als Lebensmittelpunkt gewählt. Arbeiten tun sie bei den großen Arbeitgebern in der Region, ob in Salzgitter, Braunschweig, Hildesheim oder in Goslar. Dafür biete Heere aus seiner Sicht eine nahezu perfekte Infrastruktur. Mit A 7, A 39 und B 6 sind in wenigen Minuten zentrale Autotrassen der Region erreichbar, im wenige Kilometer entfernten Baddeckenstedt verkehren Busse und Regionalbahnen. „Ich habe früher in Salzgitter-Lebenstedt gewohnt und brauchte acht Minuten mit dem Auto zur Arbeit. Jetzt brauche ich nur circa zehn Minuten länger, lebe aber in dieser tollen Umgebung.“ sagt Achilles. Was für die SPD als Partei spreche? „Volksnähe. Das ist auch das, was den Menschen hier wichtig ist.“

Dass Achilles es mit der Heimatliebe ernst meint, zeigt sein Outfit an diesem Tag. Vorne auf seinem grünen Polo-Hemd prangt das Wappen der Gemeinde in den Farben Rot und Gelb. Diese stünden für die beiden Ortsteile Groß- und Klein Heere, erklärt Eisenbarth. Im Wappen sind die Farben vereinigt unter einem Hut und das nicht nur sprichwörtlich, sondern manifestiert im Symbol des sogenannten Turnierhuts. Das Wappen ist im Ort allgegenwärtig, nicht nur auf den Kleidungsstücken seiner Einwohner, sondern auch am Eingang zur Sporthalle oder in einer riesigen Variante in den Ackerboden eingemäht „Das hat der Club der alten Säcke organisiert“, nennt Achilles einen weiteren Heerer Verein. Da komme aber nicht jeder rein. Auf der Internetseite ist das nachzulesen. Aufnahmekriterien: Mindestens 40 Jahre und einmal geschieden.

Zu den Runden, in denen sich Vize-Bürgermeisterin Eisenbarth austauscht, gehören auch Bernd Zühlsdorf und Brigitte Kippenberg. Der 69-jährige Zühlsdorf ist SPD-Schatzmeister und seit mehr als 50 Jahren ein Genosse. Schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg bauten seine Eltern in Heere. „Uns verbindet die Hilfe untereinander“, sagt auch er. Eigenschaften, für die auch die SPD stehen würde. Insbesondere der aktuelle SPD-Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis, Außenminister Sigmar Gabriel, und dessen Vorgänger Wilhelm Schmidt – heute ehrenamtlicher Präsident der Arbeiterwohlfahrt in Deutschland – hätten sich hier immer wieder gezeigt, sei es auf Kinderfesten, Dorfabenden oder Parteiveranstaltungen, erzählt Zühlsdorf. „Der Gabriel ist hier früher mit seiner Tochter rumgekommen, hat eine Bratwurst gegessen und den Menschen zugehört. Und Schmidt, der war auf jeder Veranstaltung, um seine Verbundenheit zu zeigen.“ Einmal in Fahrt sagt Zühlsdorf, was Gabriel und Schmidt von der politischen Konkurrenz unterscheide. „Die zeigen Präsenz, ob eine Wahl ansteht oder nicht“ Den CDU-Kandidaten kenne er nur aus der Zeitung. Kippenberg, die sich in der Awo engagiert, sagt, dass ein hoher Organisationsgrad unter den Vereinen und der SPD herrsche. In vielen Fällen seien die Akteure dieselben. „Die Folge ist, dass wir den Menschen jedes Jahr Angebote machen, an denen sie teilnehmen können.“ Winterwanderung, Frauentag, Maikundgebung oder Adventsfeiern für Senioren, zählt sie auf. Heere stehe sinnbildlich für eine Gesellschaft, in der man sich umeinander kümmere, sagt Kippenberg. „Das fällt am Ende auf die SPD zurück.“

Im Jahr 2008 feierte die SPD 100-jähriges Bestehen in Heere. Kippenberg glaubt aller Unkenrufe zum Trotz weiter an die Zugkraft und den Erfolg von Martin Schulz bei der Bundestagswahl. „Mindestens 60 Prozent für die SPD in Heere“, sagt Kippenberg. Während sich die Stirn von Ewald Wesche, Vorsitzender des Heerer Schützenvereins und ebenfalls SPD-Mitglied, in Falten legt, springt Eisenbarth ihrer Freundin bei: „Noch ist nichts entschieden. Ich bin eine Optimistin.“