Berlin. Bund und Länder folgen vorerst dem Beispiel Niedersachsens: Straftäter und Gefährder sind von der Regelung ausgenommen.

Unser Leser Bernd Fricke aus Braunschweig fragt:

Trotz all der Anschläge will die Bundesregierung daran festhalten, Flüchtlinge ins „sichere“ Afghanistan zurückzuführen. Ist das ein Karnevalsscherz von Herrn de Maizière?

Die Antwort recherchierte Andre Dolle

Nach dem schweren Terroranschlag am Mittwoch in Kabul will die Bundesregierung Afghanen vorerst nur in Ausnahmefällen in ihre Heimat zurückschicken. Darauf einigte sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Donnerstagabend in Berlin mit den Ministerpräsidenten der Länder.

Das Auswärtige Amt wird nun eine Neubewertung der Sicherheitslage vorlegen. Bis diese fertig und die deutsche Botschaft in Kabul wieder voll funktionsfähig ist, soll es Abschiebungen nur in bestimmten Fällen geben.

Zurückgeschickt werden sollen weiter Straftäter und Gefährder. Das gilt auch für Menschen, die hartnäckig ihre Mitarbeit an der Identitätsfeststellung verweigern. Das neue Lagebild soll bis Juli vorliegen. Bund und Länder folgen somit weitgehend der Abschiebepraxis der rot-grünen Landesregierung in Niedersachsen.

Die Explosion einer mächtigen Lastwagenbombe in Kabul am Mittwoch hatte 90 Menschen getötet, ein Gebäude der deutschen Botschaft schwer beschädigt. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz sowie Politiker von Grünen und Linken forderten gestern vor der Einigung zwischen Bund und Ländern einen generellen Abschiebestopp. Unionspolitiker – allen voran Kanzlerin Merkel und Bundesinnenminister Thomas de Maizière – lehnten noch am Mittwoch einen Abschiebestopp ab. Darauf bezog sich auch unser Leser mit seiner bissig formulierten Frage. Die Union stimmte dem Kompromiss am Abend zu.

Der Braunschweiger Abgeordnete Carsten Müller (CDU), stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags, war am Mittwochnachmittag noch ganz auf Parteilinie. Er sagte auf Anfrage: „Nach dem jüngsten schrecklichen Anschlag in Kabul wurden die Sammelüberführungen für die nächsten Tage ausgesetzt, denn die Botschaftsmitarbeiter sind in der gegenwärtigen Situation anderweitig eingebunden. Die nach dem Gesetz bestehenden Ausreisepflichten müssen dennoch konsequent durchgesetzt und nachgeholt werden.“ Die Union verabschiedete sich dann am Abend von dieser Forderung.

Viele Bundesländer, selbst rot-grün regierte wie Niedersachsen, drängten bereits im Tagesverlauf darauf, an den Abschiebungen festzuhalten. Das gilt vor allem für den Fall, dass es sich bei den Ausreisepflichtigen um Straftäter handelt. „In Fällen, wo aus Afghanistan eingereiste Personen straffällig geworden sind, wird abgeschoben“, sagte Regierungssprecher Olaf Reichert unserer Zeitung unmissverständlich. „Gleichwohl haben wir die Sicherheitslage in Afghanistan genau im Blick.“ Es gebe weiterhin Einzelfallentscheidungen, die von den Landesbehörden gründlich geprüft würden.

Die Frage eines Abschiebestopps ist für Niedersachsen eher eine grundsätzliche – die Fälle sind überschaubar. 2016 wurden aus Niedersachsen fünf Afghanen abgeschoben, darunter zwei Straftäter. Die anderen drei mussten ausreisen, weil sie in dem EU-Land Asyl beantragen müssen, in das sie zuerst eingereist waren. An den Sammelabschiebungen des Bundes hatte sich Niedersachsen nicht beteiligt.

Der Göttinger Grünen-Bundestagsabgeordnete Jürgen Trittin sagte unserer Zeitung: „Die Bundesregierung lügt die Menschen an. Afghanistan ist nicht sicher – auch nicht in Teilen. Das hat der verheerende Anschlag erst wieder klar gemacht.“

Trittin, der Mitglied im Auswärtigen Ausschuss ist, forderte: „Die Zwangsrückführungen und die Erpressungen zur Ausreise müssen umgehend gestoppt werden. Das haben wir Grüne heute im Bundestag erneut beantragt. Es ist ein Gebot des Anstands und der Menschlichkeit.“ Zumindest in Teilen folgen Bund und Länder diesem Antrag nun doch.

Die Gifhorner Entwicklungshelferin Sybille Schnehage hingegen sieht, wie Unions-Politiker und einige Länder, einen generellen Abschiebestopp kritisch. Dass deutsche Behörden Afghanistan weiterhin als gefährlich einstufen, zeigte sich am Umgang der Behörden mit der Vorsitzenden des humanitären Hilfsvereins Katachel. Schnehage durfte zwischenzeitlich nicht nach Afghanistan reisen. Die Passbehörde befürchtete, dass ihr eine Entführung drohte. Schnehage klagte gegen den Beschluss und gewann vor dem Verwaltungsgericht Braunschweig.

„Es ist immer gefährlich in Afghanistan“, sagte Schnehage, die seit mehr als 25 Jahren in das Land fährt, zwar. Jedoch sagte sie: „Ein Abschiebestopp wäre das falsche Signal an die Afghanen. Es würde eine Sogwirkung entfalten, wenn niemand mehr zurück aus Deutschland muss.“ Schnehage kritisierte vielmehr die Entwicklungspolitik Deutschlands. „Man hat viel zu lange die Machthaber in Kabul und der Zentralregion unterstützt.“ Diese würden sich bereichern, stattdessen wäre es wichtig, Arbeitsplätze zu schaffen. Schnehage: „Warum zum Beispiel bleibt die Ölquelle in Kunduz ungenutzt?“