Berlin. Die Wahlschlacht Erdogans für seine Verfassungsreform hat die deutsch-türkischen Beziehungen in ein Trümmerfeld verwandelt.

Nazi-Praktiken, Faschismus und Rassismus, Unterstützung von Terroristen: Was musste sich die Bundesregierung in den vergangenen Wochen nicht alles aus dem Munde des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan anhören. Kein Wunder, dass Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) dem türkischen Verfassungsreferendum am Sonntagabend in einer ersten Reaktion sogar etwas Positives abgewinnen konnte. „Es ist gut, dass der so erbittert geführte Wahlkampf, auch bei uns in Deutschland, jetzt vorbei ist.“

Damit hat es sich aus Sicht der Bundesregierung dann aber auch schon mit den erfreulichen Aspekten des Referendums, das die Macht Erdogans über das wichtige Partnerland am Rande Europas deutlich steigern wird. Bis zu einer ersten Einordnung des Ergebnisses brauchten Gabriel und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bis zum Montagvormittag. Das Zögern lag am knappen Ausgang und den Manipulationsvorwürfen der Opposition.

Die gemeinsame Erklärung von Kanzlerin und Vizekanzler enthielt dann vor allem eine Botschaft: Der Dialog mit der Türkei soll so schnell wie möglich wieder aufgenommen werden - vor allem um den „gravierenden Bedenken“ einer Expertenkommission des Europarats gegen die neue türkische Verfassung Rechnung zu tragen.

Mit anderen Worten: Hilft ja nichts, wir müssen wieder reden. Der Dialog der Bundesregierung mit Ankara war angesichts der heftigen, auch gegen Merkel persönlich gerichteten Beschimpfungen Erdogans und seiner Gefolgsleute in den vergangenen Wochen weitgehend eingestellt worden. Schon vor dem Referendum gab es Kontakte zwischen beiden Seiten, um eine Wiederaufnahme des Gesprächsfadens anzubahnen.

Es ist davon auszugehen, dass es nicht allzu lange bis zum ersten persönlichen Gespräch zwischen Gabriel und seinem Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu seit Anfang März dauern wird. Merkel wird Erdogan spätestens beim Nato-Gipfel am 25. Mai in Brüssel wiedersehen. Dann wird man sehen, wie tief die Wunden sind, die der Wahlkampf geschlagen hat.

Konkrete Konsequenzen aus dem Referendum will die Bundesregierung zunächst nicht ziehen. Man will erst einmal abwarten, wie Erdogan mit dem Ergebnis umgeht. Die innenpolitische Debatte über die Folgen des Votums läuft aber längst auf Hochtouren. Dabei geht es um folgende drei Punkte:

- EU-BEITRITT: Dass CSU, CDU, FDP und Linke einer Meinung sind, gibt es nur äußerst selten. Der Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wird aber nun von Spitzenpolitikern aller vier Parteien gefordert. Ihr Hauptargument: Die Türkei erhält im Zuge des Beitrittsprozesses EU-Hilfen in Milliardenhöhe. Alleine für den Zeitraum von 2014 bis 2020 sind es 4,45 Milliarden Euro. Ein großer Teil kommt aus der deutschen Staatskasse.

Gabriel brandmarkte die Forderungen dennoch am Montag bei einem Besuch in Albanien als innenpolitisch motiviert. „Ich bin dafür, dass wir eher nach neuen Gesprächsformaten suchen, denn die Türkei bleibt unser Nachbar.“ Das Maß ist für ihn erst voll, wenn Erdogan die Todesstrafe wieder einführt. Genau dazu könnte es aber kommen. In seiner ersten Rede nach dem Referendum kündigte der türkische Präsident an, genau dieses Thema wieder auf die Tagesordnung zu setzen.

- ANTI-TERROR-KAMPF: Für den Kampf gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Syrien und im Irak ist die Türkei ein wichtiger Verbündeter. Die Bundeswehr beteiligt sich daran von der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik aus mit „Tornado“-Aufklärungsflugzeugen und mit einem Tankflugzeug. 260 deutsche Soldaten sind dort stationiert. Die Opposition fordert nun den sofortigen Abzug. Die Bundesregierung sieht keinen Grund dafür.

Das könnte sich aber ändern, wenn die Türkei einen für den 16. Mai geplanten Besuch des Bundestags-Verteidigungsausschusses in Incirlik blockiert. Ein solches Besuchsverbot belastete die deutsch-türkischen Beziehungen bereits im vergangenen Jahr schwer. Das Verteidigungsministerium hat jedenfalls inzwischen sicherheitshalber Ausweichstützpunkte in Jordanien, Zypern und Kuwait ausfindig gemacht.

- NATO: Die Linke hat auch einen Ausschluss der Türkei aus der Nato ins Gespräch gebracht, ist damit aber völlig isoliert. Die Bundesregierung hält das für undenkbar. „Auch während der Militärdiktatur in der Türkei ist zum Beispiel niemand auf die Idee gekommen, die Türkei aus der Nato auszuschließen - weil wir nicht wollten, dass sie in Richtung der Sowjetunion geht“, sagt Gabriel. Auch heute noch fürchtet die Bundesregierung, dass die Türkei in die Arme Moskaus abdriftet.

Vor allem wegen der Millionen in Deutschland lebenden Türken und Deutschtürken hat die Bundesregierung ein Interesse an einigermaßen funktionierenden Beziehungen zu Ankara. Und sie setzt darauf, dass die Ära Erdogan irgendwann einmal vorbei ist. Die 48,6 Prozent der Türken, die gegen seine Verfassungsreform gestimmt haben, bestärkt sie in dieser Haltung. „Man muss nicht nur an das Heute, sondern auch an das Morgen denken“, sagt Gabriel. „Es kommt auch eine Zeit danach.“