Wolfenbüttel. Thomas Wilde aus Cremlingen will damit ein persönliches Bekenntnis zum Rechtsstaat ablegen. Er sei ein überzeugter Europäer, sagt der Tischlermeister.

Unser Leser Thomas Wilde fragt:

Warum kann ein ausländischer Präsident bei uns zu Terror und Gewalt aufrufen?

Die Antwort recherchierte Dirk Breyvogel

Der Mann, der am Tisch gegenübersitzt, hat seine Prinzipien. Kein Wort hat er zurückzunehmen. Mit seiner Zimmermann-Montur könnte er glatt auf die Walz gehen. Aber die wilden Zeiten sind vorbei. Der Mann wird 71. Seine Kleidung ist ein Bekenntnis zu seinem Beruf, den er seit 54 Jahren ausübt. Seinen Hut nimmt er nie ab. Ein Markenzeichen. In zwei Situationen macht der Handwerker eine Ausnahme. „In der Kirche vor Gott und beim Essen, als Geste des Dankes, dass etwas auf dem Teller liegt.“

Tischlermeister Thomas Wilde lebt seit 36 Jahren im Kreis Wolfenbüttel. Gebürtig kommt er aus Hamburg. Das hört man, wenn er von dieser Zeit erzählt. Mit Udo Lindenberg, mit dem er nicht nur die Leidenschaft für Hüte teilt, habe er die eine oder andere Nacht zum Tage gemacht. „Im Jazzclub Onkel Pö“, sagt er.

Für faule Kompromisse ist Wilde das Leben zu kurz. Vor drei Jahren verstarb seine Frau nach einer langwierigen Krebserkrankung. Vielleicht hat er sich auch deshalb entschieden, nicht alles einfach so hinzunehmen. Seinem Unmut über die Entwicklungen in der Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdogan musste er Luft machen. Er wählt den Weg, der jedem Bürger der Bundesrepublik Deutschland aus seiner Sicht offenstehe. „Den Weg der Rechtsstaatlichkeit.“

Ende März, nachdem er in unserer Zeitung ein Zitat von Erdogan gelesen hat, fährt Wilde auf die Polizeiwache nach Cremlingen und erstattet Anzeige gegen den türkischen Präsidenten: „Wegen Volksverhetzung, Beleidigung und Androhung zu Terroranschlägen in der EU und weltweit.“ Er unterschreibt das Blatt in Anwesenheit eines Polizeibeamten.

Die Anzeige ist nach Einsicht durch den Staatsschutz in Wolfenbüttel mittlerweile an die Staatsanwaltschaft Braunschweig weitergeleitet worden. Erdogan hat Wilde mit diesem Satz erzürnt: „Wenn ihr euch weiterhin so benehmt, wird morgen kein einziger Europäer, kein einziger Westler sicher und beruhigt einen Schritt auf die Straße setzen können.“ Dabei wird in dem Artikel, der von der Deutschen Presse-Agentur verfasst worden ist, nicht deutlich, was Erdogan mit dem Begriff „benehmt“ meint und in welchem Zusammenhang er das gesagt hat. Auch ist nicht auszuschließen, dass sich ein Übersetzungsfehler eingeschlichen haben könnte.

Wählte der türkische Präsident das Wort „benehmen“ im Sinne einer Mahnung der Eltern, wenn sie dem renitenten Nachwuchs die Leviten lesen? Oder meinte Erdogan es im Sinn von: Wer sich so verhält, darf sich nicht wundern, wenn er am Ende des Tages nicht mehr sicher ist? Letzteres würde dann offensichtlich auf die Kritik des Westens zielen, der die Umstände des Putschversuchs gänzlich anders bewertet als Erdogan selbst.

Wilde, der auch heute noch als Bauleiter arbeitet, will das nicht gelten lassen. Schon die Nazi-Vergleiche, die Erdogan bei Wahlkampfauftritten im Vorfeld des Referendums wählte, hat er als „fürchterlich“ empfunden. In diesem Zitat gehe der türkische Präsident noch einen Schritt weiter und rufe zu Terror und Gewalt auf. „Seine Anhänger könnten diese Aussage zumindest so verstehen“, sagt Wilde und fügt hinzu: „Wenn eine Person in Deutschland öffentlich diese Aussage tätigen würde, hätte er sofort die Polizei vor der Tür.“ Zu verstehen sei ebenfalls nicht, warum Wahlkampfauftritte von türkischen Politikern in Deutschland stattfinden dürften, obwohl dies die türkische Verfassung gar nicht erlaube. Toleranz habe hier ihre Grenzen. Wilde reibt sich immer wieder seinen Kopf. Den Hut hat er abgelegt. Unter diesem ist es offenbar heiß geworden.

Anzeige als „Mutmacher“

Wer sitzt da eigentlich und sagt so etwas? Ein Türken-Hasser? Ein Rechtsausleger? An der Hauswand seines Fachwerkhauses hängt eine Plakette mit dem Wappen des Landes Niedersachsen. Eine tellergroße Schützenscheibe mit der Inschrift „Volkskönigin“ weist auf einen erfolgreichen Wettkampf hin. Auf den für den Kamin gespaltenen Holzscheiten liegt das gelbe „Asse-A“, das in dieser Region in vielen Vorgärten steht. „Ich bin ein überzeugter Europäer“, sagt Wilde. Er träumt von den Vereinigten Staaten von Europa. „Ob diese EU dafür gemacht ist – ich weiß es nicht.“

Die Anzeige gegen Erdogan versteht Wilde daher auch als Mutmacher. „Ich will damit die Türken in Deutschland unterstützen, die den Prozess in ihrer Heimat kritisch sehen.“ Er wolle sie auffordern, ihre Meinung kundzutun und für Europa und für die Prinzipien des Rechtsstaats einzutreten.

Von Abschottung hält Wilde in Zeiten von Krisen auf der ganzen Welt und Flüchtlingsströmen nichts. Ein Krankenhausaufenthalt hat ihm die Augen geöffnet. Dort lag er auf einem Dreibett-Zimmer mit Bettnachbarn aus dem Nahen Osten und Nordafrika. „In so einer Situation bleibt nichts anderes übrig, als sich zu arrangieren. Und ich habe sehr schnell etwas über die Kultur gelernt und auch etwas für die Zeit nach dem Krankenhaus-Aufenthalt mitgenommen.“ Noch immer stehe er mit diesen Menschen, die er nur kurz kennengelernt habe, in Kontakt.

Wilde, Jahrgang 1946, beschreibt sich als „in diese Republik hineingeboren“. Der Schrecken, den die Herrschaft der Nationalsozialisten hinterließ, prägte die Kindheit. Sein Elternhaus beschreibt er als konservativ-nationalistisch. Es hätte ihn trotz der schwierigen Zeit mit einem großen Sinn für Toleranz erzogen. „Bei den Familienfesten im Haus meiner Großeltern kamen Kommunisten, Sozialdemokraten, aber auch konservative Nationaldemokraten zusammen. Sie saßen zwar an unterschiedlichen Tischen, aber jede politische Couleur hatte ihre Berechtigung.“ Er habe sich als junger Mann den Naturfreunden und der Deutschen Friedens Union angeschlossen. Auch lose Kontakte zur DKP habe er gehabt. Sein Vater, ein Mitglied der Handelsmarine, hätte ihn immer liebevoll „mein kleiner Roter“ genannt.

Bekenntnis: ich bin ein Freigeist

Dass er aber nie die Arbeit in einer Partei anstrebte, erklärt Wilde mit seinem Grundstreben nach persönlicher Freiheit. „Ich bin ein Freigeist“, sagt er. Einmal habe er sich von der CDU für den Rat seiner Heimatgemeinde aufstellen lassen. Relativ schnell war klar, dass es ein Projekt auf Zeit bleiben sollte. „Ich habe mich sehr an der Parteiräson gestört, der ich meine persönliche Meinung unterordnen sollte.“ Schon bei der ersten Sitzung zeigte sich das. „Ey, alter. Zieh mal den Hut ab“, habe ein Ratsmitglied gerufen. Daraufhin hätte es eine offizielle Anfrage gegeben, ob der Hut unter das Vermummungsverbot fallen würde. „Das war schon skurril für mich.“

Wildes konsequente Haltung zeigt sich auch Wochen nach der erstatteten Anzeige gegen den türkischen Präsidenten. Auf eine Anonymisierung seiner Person in der Zeitung verzichtet er, obwohl Polizei und Staatsschutz das geraten hatten. „Wenn man so etwas macht, muss man auch öffentlich dazu stehen“, erklärt er. Er habe sich das lange überlegt. Man könne nicht immer die Augen verschließen und hoffen, dass sich alles in Wohlgefallen auflöse. „Man muss sich auch mal entscheiden im Leben. Erst recht, wenn man wie ich das Grundgesetz als Maßstab des Handelns betrachtet.“

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig wird Wildes Anzeige hinsichtlich der strafrechtlichen Relevanz nun überprüfen. Aus der Behörde heißt es, es sei nichts Ungewöhnliches, dass Politiker von Bürgern angezeigt würden. Die Erste Staatsanwältin Julia Meyer weist beispielsweise auf Anzeigen gegen Sigmar Gabriel hin, nachdem dieser in Salzgitter den Stinkefinger gegen rechtsradikale Demonstranten erhoben hatte. In aller Regel würden diese Verfahren wegen Nichtigkeit eingestellt, zumal, wenn der Kläger selbst nicht Betroffener gewesen sei. Der Beschuldigte, in dem Fall Erdogan, würde dann in der Regel gar nichts von den Vorwürfen erfahren. „Das ist aber mein Ziel“, sagt Thomas Wilde.

Hier lesen Sie einen Kommentar zum Thema: Der Mutbürger