Braunschweig. Niedersachsens Innenminister betont, jeder Einzelfall müsse geprüft werden. Afghanistan-Kenner sprechen von sicheren Regionen.

Unser Leser Rüdiger Reupke aus Isenbüttel fragt:

Warum verweigert sich die Regierung der Wahrheit, die doch – Stichwort Taliban – so offensichtlich ist?

Die Antwort recherchierte Jens Gräber

Abgelehnte Asylbewerber sollen konsequent nach Afghanistan abgeschoben werden. Diese Parole hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) ausgegeben, nachdem sein Ministerium im Oktober des vergangenen Jahres ein Rückführungsabkommen mit dem Land abgeschlossen hatte. In einem Interview im afghanischen Fernsehen sagte er vor rund einer Woche an die Adresse potenzieller Flüchtlinge: „Die Chancen, erfolgreich in Deutschland zu bleiben, sind ganz gering.“ Die teure und gefährliche Flucht lohnt sich nicht, will der Minister signalisieren – und so den Flüchtlingsstrom bremsen.

Dabei ist Afghanistan derzeit besonders gefährlich, jedenfalls wenn man die nackten Zahlen betrachtet. Nach Informationen der Vereinten Nationen gab es im vergangenen Jahr bei Kämpfen rund 12 000 zivile Opfer – so viele wie noch nie seit dem Jahr 2009, als die systematische Erfassung der Zahlen begann. Dabei seien regierungsfeindliche Kräfte, vor allem die Taliban, für beinahe zwei Drittel der Opfer verantwortlich, heißt es in einer aktuellen Mitteilung.

Zivilopfer in Afghanistan

Unser Leser hat angesichts dessen das Gefühl, dass die Bundesregierung sich der Wahrheit verweigert. Tatsächlich folgen auch nicht mehr alle Bundesländer dem Kurs de Maizières. Unter anderem in Niedersachsen wird die Sicherheitslage offenbar kritischer beurteilt. Bis zum Abschluss „eingehender Prüfungen“ soll es „im Zweifel“ keine Rückführungen nach Afghanistan geben, erklärte ein Sprecher des Innenministeriums vor Tagen unserer Zeitung.

Aber was bedeutet das? Und wie lange gilt das? Auf erneute Nachfrage lässt sich Niedersachsens Innenminister Boris Pisto-

rius (SPD) mit folgenden Sätzen zitieren: „Es gibt kein klares Sicherheitslagebild für Afghanistan. Es mag Regionen geben, in die man theoretisch abschieben kann und andere, in die das wiederum gar nicht geht. Deswegen sagen wir in Niedersachsen: Wir prüfen das im Einzelfall.“ Im vergangenen Jahr seien nur zwei afghanische Straftäter abgeschoben worden, teilt das Ministerium mit.

Verweigert de Maizière sich also tatsächlich der Wahrheit? So einfach ist es nicht, denn auch der Bundesinnenminister spricht von sicheren und unsicheren Regionen und davon, dass eine Abschiebung nach Afghanistan einzeln geprüft werden müsse. Letztlich sagt er also nichts anderes als Pistorius.

Der Unterschied liegt in der Tonlage: De Maizière betont die Möglichkeit von Abschiebungen, um eine Flucht unattraktiver zu machen. Pistorius stellt die Entscheidung im Einzelfall in den Vordergrund, eine Grundsatzlösung könne es hier nicht geben.

Wie sicher ist Afghanistan tatsächlich? Kenner des Landes wie Udo Stolte, Vorsitzender der Hilfsorganisation Shelter Now, zeichnen ebenfalls ein differenziertes Bild. Zwar sei die Sicherheitslage allgemein eher schwieriger geworden, so Stolte. Außerdem stünde jeder, der aus dem Westen dorthin zurückkäme, unter besonderer Beobachtung – wer etwa Christ geworden sei, müsse mit Problemen rechnen. „Es ist aber auch richtig, dass die Lage in den Regionen sehr unterschiedlich ist: einige sind fest in der Hand der Taliban, andere nicht“, erklärt Stolte. In Städten wie Kabul, wo auch Shelter Now ein Büro hat, sei es relativ sicher und die Lage auch mittelfristig stabil. Das gelte auch für andere Bereiche des Landes.

Zudem habe er in vielen Gesprächen den Eindruck gewonnen, dass viele der Geflüchteten das Land nicht verlassen hätten, weil sie persönlich dort bedroht worden seien oder Verfolgung erdulden mussten – sie seien schlicht auf der Suche nach besseren Perspektiven.

So sieht es auch Sybille Schneehage, die von Gifhorn aus die Hilfsorganisation Katachel leitet. „Das Land ist nicht unsicherer als vor einigen Jahren. Es ist nicht so, dass normale Leute in Afghanistan direkt bedroht sind“, sagt sie. Sie ist mit Stolte einer Meinung: Ein pauschales Urteil, das Land sei sicher oder unsicher, sei schwer zu fällen. Schneehage warnt aber: „Wenn man jetzt sagt, keiner wird mehr dahin abgeschoben, dann erzeugt das einen Sog.“