Berlin. Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen erklärt im Interview, warum er bislang keine Versäumnisse im Fall Anis Amri sieht.

Die Sicherheitsbehörden stehen wegen möglicher Versäumnisse im Fall des Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäters Anis Amri massiv in der Kritik. Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen kann bisher keine Fehler der Verantwortlichen in den Ländern erkennen. In einem Interview mit Jörg Blank und Sebastian Engel von der Deutschen Presse-Agentur berichtet er auch von einer grundlegenden Veränderung der salafistischen Szene.

Der Fall Anis Amri wirft viele Fragen auf. Die Menschen können kaum verstehen, dass ein bekannter „Gefährder“, der so intensiv überwacht worden ist, dann doch aus dem Radar verschwinden kann. Haben die Verfassungsschutzbehörden versagt?

Der Begriff „Gefährder“ besagt nicht, dass wir die Möglichkeiten haben, diese Person permanent, 24 Stunden, 7 Tage zu observieren oder sie in Haft zu nehmen. Amri hatte behauptet, Waffen besorgen und Anschläge verüben zu können. Obwohl er lange beobachtet und überwacht wurde, haben sich diese Hinweise nicht bestätigt. So dass es letztlich keinen Grund gab, ihn als Islamisten in Haft zu nehmen.

Hätte sein Anschlag verhindert werden können?

Die Sicherheitsbehörden, vor allem die Polizeibehörden, haben alles getan, was in ihrer Macht stand, um die von Amri ausgehende Gefahr einzuschätzen. Klar ist aber auch: Wir leben in einem Rechtsstaat, und der rechtsstaatliche Rahmen muss auch beachtet werden.

Wie war die Reaktion in der Salafisten-Szene auf den Anschlag? Wie hoch ist das Risiko weiterer Anschläge?

Es gab nur vereinzelte Kommentare von salafistischen Internetnutzern. Der Anschlag wird begrüßt, und es wird zu weiteren Anschlägen gegen den Westen aufgerufen. Die Gefährdung liegt unverändert auf hohem Niveau.

Es gibt Vorwürfe, dass die Experten des Gemeinsamen Terrorabwehr- zentrums von Bund und Ländern (GTAZ) die Bedrohung durch Amri falsch eingeschätzt haben. Ist da etwas dran?

Die Kollegen im GTAZ gehen hochprofessionell und erfahren an die Sache heran. Und ich kann bisher jedenfalls nicht erkennen, dass die Verantwortlichen in den Ländern Fehler gemacht haben. Die Beweislage war dünn. Man muss auch immer die Ressourcen sehen, die wir haben, um Observationen oder Telekommunikationsüberwachung durchzuführen.

Was meinen Sie damit?

Die Sicherheitsbehörden müssen natürlich infolge einer Gefährdungsbewertung auch entscheiden, in welchem Fall sie welche Prioritäten setzen und in welchen Fällen welcher Personalaufwand Sinn macht. Die Person Amri ist nicht die einzige, die uns beschäftigt. Es gibt noch andere Gefährder in Deutschland, die uns große Sorgen machen. Die Nachrichtendienste zählen weit über 1200 Personen zum islamistisch-terroristischen Personenpotenzial. Da ist es selbstverständlich ein großer Aufwand, die relevanten Personen unter Wind zu halten. Und es war daher wichtig, dass uns die Politik mit erheblichem Stellenaufwuchs geholfen hat.

Wie viele Beamte sind zur Überwachung eines Gefährders nötig?

Ein Observationstrupp hat etwa zehn Personen bei uns. Bei einer Rund-um-die-Uhr-Observation über einen längeren Zeitraum muss man vier bis sechs Trupps einsetzen. Allein das BfV hat bei der Observation der drei Islamisten, die im September in Schleswig-Holstein festgenommen worden sind, zwischen Dezember 2015 und September 2016 über 22 000 Observationsstunden aufgewandt. Das ist etwa so, als wenn 150 Mitarbeiter einen ganzen Monat nichts anderes machen, als drei Leute zu observieren.

Es gab jüngst Aktionen gegen den Top-Salafisten Abu Walaa und

andere prominente Figuren der Szene. Hat das die Szene aufgemischt oder vielleicht eher

herausgefordert? Und wie viele Salafisten gibt es derzeit in Deutschland?

Wir zählen mittlerweile mehr als 9700 Personen zur salafistischen Szene. Vor einigen Jahren waren wir noch bei 3800 Personen. Es macht uns große Sorgen, dass diese Szene nicht nur wächst, sondern sie ist diversifiziert. Es gibt nicht nur ein, zwei, drei, vier Personen, die das Sagen haben. Sondern es gibt sehr viele Personen, die diese salafistische Szene dominieren. Und all diese Personen müssen wir im Blick behalten.

Was meinen Sie genau mit „diversifiziert“?

Wir haben festgestellt, dass es eine grundlegende Änderung im Salafismus gibt. Vor ein paar Jahren wurde er immer mit ein paar Personen in Verbindung gebracht – Leuten wie Pierre Vogel, Sven Lau oder Ibrahim Abou Nagie. Ihre Namen werden kaum noch erwähnt. Ich hatte jüngst meine Mitarbeiter gefragt: Was sind denn jetzt die aktuellen Namen in der salafistischen Szene? Und da gibt es nicht mehr so viele Prominente. Und die Szene wird immer regionaler und lokaler.

Erschwert dies auch die Überwachung der Szene?

Viele haben nicht mehr einen solchen Einfluss wie früher ein Pierre Vogel oder ein Sven Lau. Es sind nun meist Einzelpersonen, die ihre Jünger um sich scharen. Man kann daher nicht mehr von der salafistischen Szene reden, sondern man hat es mit vielen Hotspots zu tun. Das macht die Sache für uns auch schwieriger, weil wir nicht mehr nur auf einige wenige Köpfe schauen müssen. Wir müssen auf viele Gruppierungen achten. Wir müssen versuchen festzustellen, wo es vielleicht wieder Prediger gibt, die in einem Hinterhof Anhänger um sich scharen.

Das hört sich nach einem regelrechten Wandel an.

Wir stellen fest, dass sich darüber hinaus auch sehr viele Gruppen bilden, die vor allem über virtuelle Netzwerke kommunizieren, etwa im Internet oder in Whatsapp-Gruppen. Das haben wir vor ein paar Jahren gar nicht gekannt. Insoweit sehen wir eine deutliche Veränderung des salafistischen Spektrums.

Es gibt niemanden, der die Gruppen verknüpft und zusammenhält?

Man kennt sich untereinander. Es gibt Prediger und Emire, die sich nicht einmal das Schwarze unter dem Fingernagel gönnen, weil jeder stark ist und glaubt, die Wahrheit auf seiner Seite zu haben. Aber in manchen Zielen sind sie sich einig – auch, was die Unterstützung von dschihadistischen Gruppierungen angeht. Es gibt auch Salafisten, die als Durchlauferhitzer agieren, die Leute radikalisieren und von einer salafistischen Moscheegemeinde zur nächsten ziehen. Aber wir sehen nicht die Person oder die Personen, die in der Szene die Fäden in der Hand haben. dpa