Braunschweig. Die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht haben die Republik verändert – und nach jahrelanger Debatte das Sexualstrafrecht reformiert.

Unser Leser Andre Priess fragt auf den Facebook-Seiten unserer Zeitung:

Ich bin für die Reform, nur stelle ich mir die Beweiskraft beim Begrapschen schwierig vor – reicht allein die Anschuldigung?

Die Antwort recherchierte Dirk Breyvogel

Der 9. November ist in der deutschen Geschichte ein ganz besonders geschichtsträchtiger Tag. Für Carola Reimann (SPD) ist dieser Tag nun um ein denkwürdiges Kapitel reicher. „Heute wurde die Reform des Sexualstrafrechts im Bundesgesetzblatt veröffentlicht“, schreibt die Braunschweiger Bundestagsabgeordnete in einer Pressemitteilung.

Schon einen Tag später trat das überarbeitete Gesetz in Kraft. „Nein heißt Nein“, so laute der neue, die Opfer in den Mittelpunkt rückende Grundsatz.

„Die erkennbare Willensbekundung reicht ab sofort aus, sich als Frau gegen sexuelle Übergriffe zur Wehr zu setzen. Wir haben einen Paradigmenwechsel im Strafrecht erreicht, der nötig und lange überfällig war. Grapschen ist kein Flirten, das sollte jetzt auch der Letzte wissen und begriffen haben“, so Reimann. Bislang sei es so gewesen, dass die Strafbarkeit davon abhing, ob „der Täter sein Opfer nötigt, Gewalt anwendet oder eine schutzlose Lage des Opfers“ ausgenutzt habe. „Eine lediglich verbale Ablehnung sexueller Handlungen durch das potenzielle Opfer reichte bisher nicht aus“, erklärt die SPD-Politikerin, die schon seit Jahren für eine Reform des Paragrafen 177 politisch streitet.

Politikerin Reimann und auch Roswitha Gemke, die als Kinder- und Jugendtherapeutin bei der Frauen- und Mädchenberatung in Braunschweig arbeitet, gehen davon aus, dass die neue Gesetzeslage zu einem Anstieg der Anzeigen führen wird. „Die Beweisführung vor Gericht wird aber auch weiterhin schwierig sein, da in den allermeisten Fällen weiter Aussage gegen Aussage stehen wird“, gibt Gemke dem Leser indirekt Recht. Oft hätten Übergriffe, die im öffentlichen Raum spielen, jedoch eine Vorgeschichte. „Wer beobachtet, wie eine Frau deutlich mit Gesten und Worten artikuliert, dass sie sich bedrängt fühlt, kann dies später vor Gericht angeben. Es geht darum, Indizien zusammenzutragen, die gerichtsrelevant sind und den Opferschutz in den Mittelpunkt stellen.“

Das Problem laut Gemke sei jedoch, dass die überwiegende Zahl der Straftaten ohne Zeugen in den eigenen vier Wänden passieren würde. „In schätzungsweise 90 Prozent der Fälle kommen die Täter aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis.“ Die Zahl der Fremdtäter stelle immer noch einen sehr geringen Teil dar. Die Therapeutin bemerkt allerdings auch den verstärkten Wunsch nach Beratung und psychologischer Prozessbegleitung. „Bis zum Juni 2016 sind fast genauso viele Betroffene in meine Beratungsstelle gekommen wie im gesamten vergangenen Jahr. Da waren es 161.“

Gemke beschreibt die Fälle, die bei ihr aufschlagen. In einigen Fällen laufen Verfahren über mehr als ein Jahr. Sie erzählt von einer Frau, der in einer Diskothek „von hinten in den Schritt gefasst wurde“. Für das Opfer ein traumatisches Erlebnis. „Sie geht seitdem nicht mehr raus. In dem Fall wird noch die alte Rechtsprechung umgesetzt. Der Tatvorwurf lautet hier Beleidigung.“

Dass es nach mehr als 30 Jahren der politischen Debatte überhaupt zu einer Strafrechtsreform kommt, ist laut Reimann den Vorfällen in der Silvesternacht in Köln und anderen deutschen Städten geschuldet. Auf der Domplatte der Rheinmetropole war es zu massenhaften Übergriffen gekommen. Die Täter kamen überwiegend aus dem arabischen und nordafrikanischen Raum. Die Opfer wurden nicht nur begrapscht. Polizeiprotokolle legen nahe, dass in vielen Fällen zumindest der Versuch der Vergewaltigung vorlag. Die Täter nutzten das Überraschungsmoment aus, anschließend Geld oder andere Wertgegenstände zu stehlen.

Mehr als 1000 Anzeigen gingen in der Folge ein, die juristische Aufarbeitung gestaltet sich jedoch schwierig. Bis Oktober 2016 gab es beispielsweise vor dem Kölner Amtsgericht 19 Verhandlungen gegen 22 Angeklagte. Dabei wurden Strafen zwischen 480 Euro und 20 Monaten Haft ohne Bewährung verhängt. Wegen sexueller Nötigung wurde lediglich in einem Verfahren verurteilt, in einem weiteren wegen Beleidigung auf sexueller Grundlage durch Grapschen. Die meisten anderen Anklagen erfolgten wegen Diebstahlsdelikten.

Köln veränderte die Republik, weil in der Bevölkerung der Eindruck einer Vertuschung der Vorfälle entstehen musste. Die erste Polizeimeldung der Kölner Polizei am Neujahrstag lautete: „Ausgelassene Stimmung – Feiern weitgehend friedlich“. Wie man heute weiß: eine fatale Fehleinschätzung, zu der auch die zunächst kaum vorhandene Begleitung des Themas durch die Medien passte. Mit den Ereignissen in der Silvesternacht änderte sich auch die Haltung der Bevölkerung zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Die von der Kanzlerin proklamierte Willkommenskultur wurde abgelöst von der Debatte über eingeforderte Verhaltensregeln, sichere Herkunftsstaaten und schnellere Abschiebung von straffällig gewordenen Asylbewerbern.

„So schlimm die Ereignisse von Köln für die Opfer waren, so hilfreich waren sie, einen bereits im Sommer 2015 eingereichten Vorschlag zur Veränderung des Sexualstrafrechts endlich nach ganz oben auf die politische Agenda zu bringen“, sagt Reimann. Manchmal müsse man eben so ein „Fenster der Gelegenheit“ nutzen, das sich durch ein historisches Ereignis bieten würde, sagt Reimann.