Braunschweig. Die Politik muss sich nach dem Familienbild der Menschen richten, fordert der Bevölkerungsforscher Martin Bujard in unserem Interview.

Welche Leitbilder von Familie haben die Deutschen? Wie definieren Männer und Frauen ihre Rollen als Eltern? Warum bleiben Frauen kinderlos? Diese Fragen erforscht das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (Bib) in Wiesbaden. Es untersucht unter anderem die Auswirkungen von Familienpolitik und berät die Bundesregierung. Zum Auftakt unserer Serie „Familienglück“ sprach Johannes Kaufmann mit dem Forschungsdirektor des Bib, Dr. Martin Bujard.

Bei Familienglück denken viele vermutlich an Vater, Mutter, Kinder, Hund. Wie realistisch ist dieses Postkartenmotiv von Familie?

Die Vorstellung, dass Familie aus Vater, Mutter und zwei Kindern besteht, ist tatsächlich weit verbreitet. Das ist das Leitbild von Familie, das sich auch in Untersuchungen zeigt, in denen man nach typischen Familien fragt oder Menschen darum bittet, eine Familie zu malen. Es gibt aber eine Vielfalt von Lebensformen, die alle Familie sind und in denen es Beziehungen und Verantwortung füreinander gibt. Dazu zählen Alleinerziehende, getrennt lebende Eltern, Familien mit mehr oder weniger als zwei Kindern oder verheiratete Paare ohne Kinder. Gerade bei Jüngeren gelten all diese Formen auch als Familien.

Was macht Familie denn dann überhaupt aus?

Bei unserer Umfrage von 20- bis 39-Jährigen zeigt sich, dass für diese vor allem das Zusammenleben von Erwachsenen mit Kindern eine Familie ausmacht. Es geht darum, in festen Beziehungen Verantwortung füreinander zu übernehmen – unabhängig vom Trauschein und davon, ob beide biologische Eltern beteiligt sind. Auch an der Heirat wird Familie festgemacht, allerdings ist dieser Aspekt weniger wichtig als früher. Eine alleinerziehende Mutter mit Kind gilt heute eher als Familie als ein verheiratetes Paar ohne Kinder. Bei älteren Menschen hingegen gehören Ehe und Familie stärker zusammen.

Wenn die Vorstellungen von Familie so unterschiedlich sind, hat das Konzept dann überhaupt noch einen analytischen Wert?

Familiengrafik

Durchaus. So wird ein Werte-Übergang erkennbar. Es zeigt sich, dass in der Bevölkerung viele verschiedene Formen von Familie akzeptiert sind und nicht manche einfach ausgegrenzt werden. Und da Politik sich an die gesellschaftlichen Realitäten anpassen muss, ist es wichtig, diesen Wandel nachzuverfolgen. Beispielsweise muss das Steuerrecht daran angepasst werden, dass Familien ohne Trauschein immer häufiger werden. Die starke gesetzliche Verankerung der Ehe sorgt für Spannungen.

Viele Familienformen bedeuten mehr Freiheit. Führt das auch zu weniger Stabilität in den Beziehungen?

Das würde ich nicht unterschreiben. Natürlich gibt es viel mehr Freiheiten in Beziehungen als früher. Das bedeutet aber auch, dass Beziehungen wirklich auf den Wunsch der Partner zurückgehen. In früheren Generationen kam es deutlich häufiger vor, dass Partner aufgrund rigider Normen, des gesellschaftlichen Umfeldes und wirtschaftlicher Abhängigkeit zusammengeblieben sind. Das ist nicht unbedingt besser. Unter dieser Abhängigkeit haben vor allem Frauen gelitten. Außerdem gibt es auch ohne Ehe sehr stabile Beziehungen.

Bei den Jungen heute scheint es eine Art konservative Wende gegeben zu haben. Die Verlobung ist wieder modern. Auch bei Homosexuellen gibt es einen Trend zu eheähnlichen Beziehungen. Ist das eine Rückkehr zu alten Familienbildern?

Das ist schwer zu sagen. Allgemein haben Menschen ein großes Bedürfnis nach Stabilität und einem festen Zusammenhalt. Das macht eine feste Liebesbeziehung, mit oder ohne Kinder, mit oder ohne Trauung, sehr attraktiv. Vielleicht wurde aber auch die Welle der Individualisierung und der sexuellen Befreiung in ihren Auswirkungen teilweise überschätzt.

Im Berufsleben werden immer mehr Flexibilität und Mobilität verlangt. Wirkt sich das auch auf Familien aus?

Ja, sehr stark. Es führt beispielsweise dazu, dass Geburten aufgeschoben werden. Denn mit Kind ist man gebunden und kann kaum alle zwei Jahre umziehen. Auch befristete und prekäre Arbeitssituationen können den Kinderwunsch verschieben, denn für viele ist die gesicherte ökonomische Grundlage eine Voraussetzung für die Familienplanung. Die Auflösung fester Jobstrukturen, die Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt und der Flexibilitätsdruck sind eine große Herausforderung nicht nur für Geburten, sondern auch für Partnerschaften. Das zeigt sich an berufsbedingten Wochenendbeziehungen.

Ein Problem junger Menschen?

Auch in späteren Lebensphasen ist es eine große Herausforderung, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Zur Mobilität gehört auch, dass immer mehr Eltern von ihren eigenen Eltern entfernt leben. Die Großeltern in der Nähe zu haben, ist aber eine große und wichtige Hilfe für junge Familien. Und in vielen vor allem wissensbasierten Berufen herrscht auch später noch eine hohe Taktung vor mit Druck zu Flexibilität und Bereitschaft, viel zu reisen. Gleichzeitig wollen Mütter und längst auch Väter viel für ihre Kinder da sein. Das ist oft nur schwer zu vereinbaren.

Bei Diskussionen über niedrige Geburtenraten stehen häufig die Frauen im Fokus. Hat womöglich auch der Anspruch der Väter, sich mehr um die Kinder zu kümmern, ohne im Job kürzertreten zu wollen, Einfluss auf die Zahl der Kinder?

Sicher. Generell sind die Erwartungen an Eltern hoch. Wir sprechen in der Wissenschaft vom Leitbild der verantworteten Elternschaft. Viele Mütter vor allem in Westdeutschland haben das Gefühl, dass von ihnen erwartet wird, ständig für die Kinder da zu sein, gleichzeitig aber ökonomisch selbstständig sein zu sollen. Es ist kaum möglich, diesen sehr unterschiedlichen Anforderungen gerecht zu werden. Bei den Vätern ist das ähnlich. Die wollen in der Karriere nicht gegenüber Männern ohne Kinder zurückstecken und trotzdem mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. Hinzu kommt der Wunsch, ökonomische Sicherheit zu bieten, schon bevor die Kinder kommen. Da wäre vielleicht etwas mehr Gelassenheit zu empfehlen: Man muss nicht bereits Antworten auf alle Fragen haben, bevor man sich für Kinder entscheidet. Die Situation der vorangegangenen Generationen war auch nicht leichter.

Sie sprechen Westdeutschland an. Gibt es da große Unterschiede zwischen Ost und West?

In Ostdeutschland ist es generell akzeptiert, dass Mütter ein Jahr nach der Geburt eines Kindes wieder arbeiten, auch in Vollzeit. Ganztagsbetreuung von Kindern ist in Ostdeutschland normal. In Westdeutschland hingegen ist Teilzeitarbeit bei Müttern weit verbreitet.

Die niedrige Geburtenrate in Deutschland wird häufig beklagt. Kann die Politik darauf einwirken, oder ist das eher eine Frage gesellschaftlicher Vorstellungen?

Beides. Die Geburtenrate hängt stark von kulturellen Faktoren ab. Dazu zählt beispielsweise das Ansehen von kinderreichen Familien. In den USA oder in Skandinavien sind Familien mit drei Kindern häufig. Dafür gibt es kulturelle Gründe. In Deutschland hingegen ist das Bild einer Zweikind-Familie dominant. Das reicht von der Architektur von Wohnungen bis zum Mutterpass, in dem Platz für Angaben zu zwei Kindern ist. Dennoch kann Familienpolitik einen Einfluss haben. Gerade Kinderbetreuung und Ganztagsschulen haben sich im internationalen Vergleich als wichtige Faktoren herausgestellt. Wenn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gestärkt wird, wirkt sich das über einen längeren Zeitraum auch positiv auf die Geburtenrate aus.

Familienleistungen des Staates bestehen aber überwiegend aus Geldzahlungen. Wirkt sich das überhaupt auf die Familienplanung aus?

Kaum. Deutschland hat tatsächlich lange auf finanzielle Leistungen und wenig auf Infrastruktur gesetzt. Das war in Skandinavien anders. Mittlerweile hat sich das aber auch in Deutschland geändert. Es gibt einen ambitionierten Ausbau der Kinderbetreuung. Da lag Deutschland im internationalen Vergleich weit zurück, hat jetzt aber aufgeholt. Es gibt also einen Wandel von finanziellen Leistungen hin zu Infrastruktur und Zeitpolitik. Allerdings verfolgt die Familienpolitik nicht nur das Ziel, die Geburtenrate zu erhöhen. Es gibt auch ökonomische und sozialpolitische Ziele, es geht um Lastenausgleich, Gleichstellung und die Erwerbstätigkeit von Müttern.

Ist die Familienpolitik dabei erfolgreich?

Einige Ziele lassen sich durchaus erreichen. Gerade Elterngeld und Kinderbetreuung dienen gleich mehreren dieser Ziele. Beides stärkt die Erwerbstätigkeit von Müttern und deren Rückkehr in den Beruf nach einer Schwangerschaft. Und das sichert die Frauen langfristig ökonomisch besser ab – bis hin zu den Rentenansprüchen. Das Elterngeld hat darüber hinaus dazu beigetragen, dass Väter häufiger zu Hause bleiben:

34 Prozent der Väter beteiligen sich beim Elterngeld. Allerdings setzt sich das später bei den Arbeitszeiten noch nicht fort. Da arbeiten Väter deutlich mehr als Frauen und sogar als Männer ohne Kinder. Bei der Gleichstellung ist also noch viel zu tun.

Das bedeutet, dass Familienpolitik eine bestimmte Vorstellung von Familie propagiert, etwa die Berufstätigkeit beider Partner. Ist das überhaupt die Aufgabe von Politik?

Entscheidend ist, dass die Familienpolitik sich dabei nach den Wünschen und Bedürfnissen der Familien richtet und prüft, wie die Lebensentwürfe und die Realität aussehen. Tatsache ist, dass ein Großteil der jungen Männer und Frauen auch mit Kindern berufstätig sein will. Gleichzeitig sind mehr als 60 Prozent der jungen Männer bereit, für die Familie beruflich etwas kürzer zu treten. Dem muss die Politik Rechnung tragen. Übrigens aber auch die Arbeitgeber.

Das war früher ja noch anders. Lässt sich dieser Wandel historisch verorten?

Das ging vor allem bei den Frauen los. Da hat die Bildungsexpansion in den 1960er Jahren eine große Rolle gespielt, verbunden mit einem kulturellen Wertewandel in den 60er und 70er Jahren. Hinzu kommt die Veränderung des Arbeitsmarkts hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft mit vielen beruflichen Möglichkeiten für immer besser ausgebildete Frauen. Der Wunsch der Männer, entsprechend eine stärkere Rolle als aktiver Vater zu übernehmen, kam deutlich später.

Viele Frauen sind aber auch einfach auf das Einkommen angewiesen. Dominiert da eher der Wunsch oder die Notwendigkeit?

Beides. Die Lohnentwicklung der vergangenen Jahrzehnte zeigt deutlich, dass viele Familien mit nur einem Einkommen finanziell nicht mehr auskommen. Gleichzeitig gibt es aber auch den Wunsch der Frauen, ihre gute Ausbildung beruflich einzubringen.

Ihr Institut erforscht auch die Gründe für Kinderlosigkeit. Was sind da die Ergebnisse?

In der Generation der Frauen, die ihre Geburtenbiografie gerade abgeschlossen haben, sind in Deutschland etwa 21 Prozent kinderlos. Bei den Akademikerinnen sind es 28 Prozent. Bei Umfragen geben etwa fünf bis zehn Prozent der Frauen an, keine Kinder zu wollen. Etwa vier Prozent sind medizinisch unfruchtbar. Der Großteil der kinderlosen Frauen ist also unfreiwillig kinderlos. Die wichtigsten Gründe sind wohl, dass Geburten aufgeschoben werden, zum Beispiel weil die Lebensumstände nicht passen oder weil der Partner fehlt – bis zu einem Zeitpunkt, an dem es dann aus biologischen oder anderen Gründen zu spät ist.

Kann die Politik da einwirken – also bei denen, die unfreiwillig kinderlos sind?

Nicht nur die Politik. Es gibt in unserer Gesellschaft unglaublich viele Möglichkeiten in Beruf, Freizeit und Partnerwahl – und dazu perfekte Verhütungstechniken. Die Entscheidung für Kinder ändert das Leben sehr stark und schränkt die Möglichkeiten ein. Darauf hat die Politik keinen Einfluss. Sie kann aber die Vereinbarkeit mit dem Beruf verbessern und berufliche Nachteile für Eltern verringern. Das hat sicher auch dafür gesorgt, dass der Jahrzehnte andauernde Anstieg der Kinderlosigkeit bei Akademikerinnen mittlerweile gestoppt ist.

Stichwort Familienglück: Sind Eltern eigentlich glücklicher als

Kinderlose?

Glück lässt sich nur schwer wissenschaftlich untersuchen. Aber durch die Entscheidung für eine Familie fallen ja nicht nur Optionen weg, sondern es öffnen sich auch neue Türen für Erfahrungen, die man sich vorher gar nicht vorstellen kann. Familie ist für viele Eltern ein tolles und sinnstiftendes Abenteuer, das sie das ganze Leben über begleitet. Selbst beruflich sehr erfolgreiche Eltern sagen in Interviews, dass sie auf nichts so stolz sind wie auf ihre Familie.