Braunschweig. Emmanuelle Charpentier entwickelte die Gen-Schere „Crispr/Cas9“. Für zwei Jahre forschte sie in Braunschweig. Sie galt als Nobelpreis-Favoritin.

Ein Anruf des Nobelpreiskomitees hätte Emmanuelle Charpentier wohl nicht überrascht. Bereits vor zwei Jahren, als sie noch beim Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig arbeitete, antwortete sie im Gespräch mit unserer Zeitung auf die Frage, ob sie eine Auszeichnung mit dem Nobelpreis für wahrscheinlich halte, mit einem einfachen „Ja“.

Für manche Fachjournalisten und Wissenschaftler ist vielmehr überraschend, dass der Anruf nicht kam. Zum zweiten Mal in Folge galten Charpentier und ihre Kollegin Jennifer Doudna als Favoriten für den Chemie-Nobelpreis. Dabei ist die Mikrobiologin gerade einmal 47 Jahre alt. Üblicherweise gehen die Nobelpreise an deutlich ältere Wissenschaftler. Auch die Entdeckung, für die Charpentier und Doudna bereits unzählige Preise erhalten haben, ist noch ziemlich jung. Im August 2012 veröffentlichten die beiden Biologinnen in der renommierten Fachzeitschrift „Science“ ihren Aufsatz, der eine Revolution in der Gentechnik auslösen sollte: eine molekulare Schere zum präzisen Schneiden des Erbguts.

Die Gen-Schere - Grafik
Die Gen-Schere - Grafik © dpa

Dass Charpentier und Doudna auch diesmal vom Nobelpreiskomitee übergangen wurden, könnte auf einen Patentstreit zurückzuführen sein. Die beiden Forscherinnen hatten 2012 mit Unterstützung der Universität Berkeley in Kalifornien ihr Verfahren in den USA als Patent angemeldet. Doch die Patentbehörde erkannte überraschenderweise im April 2014 das Patent nicht Charpentier und Doudna zu, sondern dem Neurowissenschaftler Feng Zhang vom Broad Institut des Massachusetts Institute of Technology (MIT) – obwohl er seinen Antrag erst einige Monate später als die beiden Forscherinnen eingereicht hatte. Allerdings hat nach Einschätzung der Patentbehörde erst Zhang die Methode für alle Arten von Zellen tauglich gemacht.

Renommierte Forschungsinstitute streiten um Patente

Charpentier und Doudna forderten eine Prüfung der Entscheidung. Seitdem tobt ein heftiger Streit zwischen den beiden renommierten Forschungseinrichtungen um insgesamt zwölf Patente, die mit der eigentlichen Entdeckung zusammenhängen. In dieser Situation könnte die Vergabe des Nobelpreises als Einmischung des Komitees in den Patentstreit aufgefasst werden. Dass sowohl das Broad Institute als auch Charpentier und Doudna mit diversen Unternehmen kooperieren und bereits Lizenzen für die Anwendung des Verfahrens im Agrarbereich und in der Humanmedizin verkauft wurden, macht die Lage ausgesprochen kompliziert. Der Patentstreit könnte sich noch über Jahre hinziehen.

Das könnte eine Entscheidung des Nobelpreiskomitees weiter verzögern. Darüber hinaus waren noch weitere Wissenschaftler an der Entdeckung des Crispr/Cas9 genannten Verfahrens beteiligt. Schon lange vor Charpentier und Doudna hatten Forscher im Erbgut von Bakterien kurze, sich wiederholende DNA-Sequenzen entdeckt, die „clustered regularly interspaced, short palindromic repeats“ (deutsch: gehäuft auftretende, mit regelmäßigen Zwischenräumen angeordnete, kurze palindromische Wiederholungen), kurz: Crispr. Zwischen diesen Sequenzen fanden sie Erbgutabschnitte, die von Bakteriophagen stammten, Viren, die Bakterien infizieren.

Bakterielles Immunsystem zerschneidet Viren-Erbgut

Später erkannten Wissenschaftler, dass es sich bei diesen Abschnitten um einen Teil des bakteriellen Immunsystems handelt: Die Bakterien hatten den Angriff eines Virus überstanden und einen charakteristischen Teil des Erbguts des Angreifers zwischen den Crispr-Sequenzen im eigenen Erbgut gespeichert – eine Art molekulare Erinnerung an die Infektion, die es dem Bakterium bei einem erneuten Kontakt mit dem Virus ermöglicht, den Erreger zu erkennen.

Doch wie funktionierte die Immunabwehr? Bei ihrer Arbeit mit Streptokokken entdeckten Charpentier und Doudna, dass in den Bakterien ein Protein namens Cas9 eindringende Viren zerschneidet. Sie fanden heraus, dass an Cas9 ein Molekül gebunden ist, das genau zur eingelagerten Viren-DNA zwischen den Crispr-Sequenzen passt. Dieses Molekül gleitet über das Erbgut eines eindringenden Virus, und immer wenn eine Sequenz zu der auf dem Molekül passt, schneitet Cas9.

Charpentier und Doudna erkannten schnell das riesige Potenzial, das in diesem Crispr/Cas9-System steckt. Denn bei dem Leitmolekül handelt es sich nicht um ein komplexes Protein, sondern um eine einfache Abfolge der vier Basen, die das Gegenstück zu den Bausteinen der DNA bilden. Eine solche Basensequenz lässt sich in beliebiger Kombination leicht synthetisieren und die Cas9-Schere sich entsprechend zu beliebigen anderen Abschnitten im Erbgut leiten – ein Universalskalpell für die Gen-Chirurgie.

Zwar gab es bereits zuvor Verfahren für gezielte Eingriffe ins Erbgut. Doch diese erfordern für jeden anvisierten Abschnitt in der DNA die Herstellung eines maßgeschneiderten Enzyms – ein sehr zeitaufwendiger und kostspieliger Prozess.

„Das Crispr/Cas9-System ist billiger, effizienter, schneller und präziser“, erklärte Charpentier vor zwei Jahren im Gespräch mit unserer Zeitung. „Das System ermöglicht es, Gene auszuschneiden, zu tauschen oder zu verändern.“ Denn der Zell-Mechanismus zur Reparatur von beschädigtem Erbgut kann manipuliert werden, zum Beispiel um fremdes Erbmaterial einzufügen.

Die Forscherinnen erkannten sofort, dass ihr System für eine Fülle von Anwendungen genutzt werden kann. Beide gründeten kurze Zeit später Firmen, die das Werkzeug für therapeutische Zwecke einsetzen wollen.

„Grundlagenforschung und Anwendung gehören zusammen, auch wenn die Anwendung nicht vorhersehbar ist“, sagte Charpentier unserer Zeitung kurz nach der Gründung ihrer Firma „CRISPR Therapeutics“, für die sie ein Startkapital von rund 18,5 Millionen Euro einwarb. Sie blicke immer auch aus einer praktisch-medizinischen Perspektive auf ihre Arbeit. Das Unternehmen entwickelt Gentherapien zur Behandlung von Erbkrankheiten wie Sichelzellenanämie und Beta-Thalassämie. Da diese Krankheiten durch punktuelle Mutationen im Erbgut hervorgerufen werden, könnten sie sich relativ leicht durch eine Korrektur dieser Mutationen heilen lassen.

Auch die Fachwelt reagierte enthusiastisch auf die Entdeckung. Forschergruppen auf der ganzen Welt setzen das Werkzeug ein, bereits nach einem Jahr lagen Hunderte von Publikationen zu Anwendungen vor. „Die Revolution ist bereits im Gange. Viele Forscher haben auf genau dieses Werkzeug gewartet“, sagt Charpentier 2014.

Erste mit Crispr/Cas9 veränderte Pflanzen in USA zugelassen

Auch wenn personalisierte Gentherapien noch in der Zukunft liegen, ist der Nutzen des Werkzeugs bereits offensichtlich. Mikro-Organismen können problemlos so verändert werden, dass sie nützliche Substanzen produzieren. Genetisch veränderte Mäuse dienen als Modelle zur Erforschung verschiedenster Krankheiten. Und auch Pflanzen lassen sich mit Crispr/Cas9 verändern.

In den USA wurde vor kurzem ein Champignon zugelassen, bei dem ein einzelnes Gen ausgeschaltet wurde. Die Folge: Das Enzym, das die Pilze braun anlaufen lässt, wird nicht mehr gebildet. Die US-Landwirtschaftsbehörde hat den Champignon von den üblichen strengen Gentechnik-Regularien freigestellt. Denn nicht nur wurde kein fremdes Erbgut in den Pilz eingefügt, es handelt sich auch um eine Veränderung, die genauso gut durch eine natürliche Mutation entstehen könnte. Ohne die Aussagen des Herstellers hätten die Behörden keine Möglichkeit festzustellen, ob der Pilz gentechnisch verändert wurde.

Auch eine Kartoffel, die beim Erhitztwerden weniger krebserregendes Acrylamid produziert, wurde in den USA nicht als GVO eingestuft. In der Entwicklung befinden sich außerdem Erdnüsse, die keine Allergene enthalten, dürretoleranter Mais, Weizen mit Resistenz gegen Mehltau und vieles mehr.

Das „MIT Technology Review“ nennt Crispr die „größte Biotech-Entdeckung des Jahrhunderts“. Kein Wunder, dass Emmanuelle Charpentier von den bedeutendsten Forschungsinstitutionen umworben wird. Braunschweig war einer von vielen Schritten ihrer Karriere. Trotz eigener Arbeitsgruppe am HZI und hoch dotierter Humboldt-Professur an der Medizinischen Hochschule Hannover währte Charpentiers Aufenthalt in Niedersachsen nur zwei Jahre.

Im Oktober 2015 wechselte sie als Direktorin ans Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin. Nach Stationen unter anderem in Paris, New York, Memphis, Wien und Umeå in Schweden ist sie nun bereits zum 12 Mal innerhalb von 25 Jahren umgezogen. Wo sie arbeite, sei ihr nicht so wichtig, solange die Bedingungen stimmen, sagt sie: „Ich klone mein Labor und gehe dann an die Arbeit.“ Für Privatleben bleibe da keine Zeit, äußerte sie gegenüber der „New York Times“ in einem Interview. In Berlin hat sie bisher noch nicht einmal ihre Umzugskartons ausgepackt.

Das lässt vermuten, dass auch Berlin nicht ihre letzte Station gewesen sein könnte. Aber vielleicht lässt der Nobelpreis sie ja in einigen Jahren zur Ruhe kommen.