Hannover. Nach zahlreichen Protesten spricht das Land jetzt selbst von einer Ausnahmesituation. Defizite sieht die Regierung aber nur beim Umfang der Aufgaben.

Unser Leser Joachim Rösler fragt:

Als betroffener Elternteil habe ich großes Interesse, die diesjährigen Abituraufgaben in Mathematik einzusehen, um mir ein eigenes Bild machen zu können. Meine entsprechende Anfrage bei Ministerin Heiligenstadt blieb (bisher) allerdings ohne Ergebnis.

Die Antwort recherchierte Michael Ahlers

„Der bisher schlimmste Fehler im niedersächsischen Zentralabitur“
„Der bisher schlimmste Fehler im niedersächsischen Zentralabitur“ © Kai Seefried (CDU), CDU-Landtagsabgeordneter, zum Mathe-Abi.

Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) war am Freitag nicht selbst in den Kultusausschuss des Landtags gekommen. Dort sollte die Landesregierung die Abgeordneten offiziell über die Lage zum Mathematik-Abitur „unterrichten“. Von einer Ausnahmesituation sprach dann Andreas Stein, Gymnasial-Experte des Ministeriums. Seit das Zentral-Abitur vor zehn Jahren eingeführt wurde, habe es noch keinen Anlass gegeben, in die Abitur-Prüfung einzugreifen, sagte er - so wie nun dieses Jahr. Da war eine Protestwelle auf die Schulbehörden niedergegangen.

Zu umständlich formuliert, zu schwierig, viel zu umfangreich - das sind die Hauptkritikpunkte am Mathe-Abi 2016. Sie kommen von Schülern und Eltern, aber auch von Schulleitern. „Das ist das schwierigste Mathematikabitur, das in den vergangenen 10 Jahren geschrieben wurde“, wird in einer E-Mail an unsere Zeitung ein Lehrer zitiert. Als das Thema hochkochte, hatte Ministerin Heiligenstadt entschieden, dass der Bewertungsmaßstab für die Arbeit geändert wird.

„Es geht um den Umfang“, sagte Stein nun am Freitag im Ausschuss des Landtags zu den Problemen. Die Aufgaben – sie umfassten nach Berichten 12 Seiten – selbst hätten dem Kerncurriculum entsprochen. Soll heißen: Was im Abi abgefragt wurde, durfte abgefragt werden.

Die offizielle These des Ministeriums, wonach alles in Ordnung war außer dem Umfang, teilen CDU und FDP im Landtag allerdings nicht. „Ich bin überzeugt, dass der ganze Aufbau nicht gestimmt hat“, sagte Karin Bertholdes-Sandrock (CDU), Studienrätin und zuletzt bis zum Wechsel in den Landtag an einem Gymnasium in Lüchow tätig. Die Probleme traten im sogenannten „länderspezifischen Teil“ des Abiturs auf, also bei jenen Aufgaben in Regie Niedersachsens. „Wir haben Anlass darüber nachzudenken, ob die Qualitätskontrollen ausreichend sind“, räumte auch Ministeriums-Experte Stein ein.

Auch der Einsatz von vier „Nachrechnern“, die die Aufgaben vor Verwendung im Abitur noch einmal auf Machbarkeit und Fehler abklopfen, brachte nichts. Hunderte Beschwerden waren per mail, Telefon oder Brief eingegangen, Verbände wie die Direktorenvereinigung und der Verband der Elternräte der Gymnasien protestierten. Der Philologenverband schrieb Heiligenstadt, nach Meinung vieler Fachlehrkräfte seien die Aufgaben mit Text überfrachtet, zu kompliziert und in der vorgegebenen Zeit kaum zu lösen gewesen. Man müsse sich fragen, wie so etwas passieren könne. Bekannt wurde am Freitag außerdem, dass im Geografie-Abitur bei einer Frage eine falsche Zahlenangabe stand. Ein Sprecher des Ministeriums bestätigte den Zahlenfehler, betonte aber, die Schulen seien „sehr frühzeitig“ informiert worden.

Die Mathe-Klausur von den rund 20 000 Mathe-Abiturienten einfach nachschreiben zu lassen, schließt das Land aus. Doch die angekündigte mildere Benotung hilft nur bedingt. Keine verbindliche Antwort des Ministeriums gab es zum Beispiel auf die Frage, wie viele Abi-Kandidaten entnervt aufgaben. Schon jetzt wird mit etlichen Klagen gerechnet.

Die Schüler, die das Mathe-Abitur demnächst nachschreiben, gehen zudem in eine Klausur, die bereits vorher amtlich als zu umfangreich gilt. Es werden nämlich ähnliche, wenn auch andere Aufgaben verwendet als zum Haupttermin. Das macht laut Ministerium auch die Herausgabe der Aufgaben schwierig. „Da die Abiturprüfungen noch laufen - es gibt ja auch reguläre Nachschreiber und deren Klausuren orientieren sich an der „Originalklausur“ - geben wir in dieser Zeit grundsätzlich keine Aufgaben heraus“, erklärte eine Sprecherin des Kultusministeriums auf die Frage unseres Lesers. Eine Veröffentlichung der Aufgaben werde frühestens möglich sein, wenn alle Klausuren und Nachprüfungen abgeschlossen seien, also nicht vor Ende des gesamten Abiturs 2016. Verbandsvertreter raten, lieber den Kontakt mit der Schule zu suchen.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) warnte vor Dramatisierung. „Wir reden hier nicht von einem verunglückten Vokabeltest, sondern von der wichtigsten Prüfung im Leben eines Gymnasiasten, einer Gymnasiastin“, erklärte dagegen Oliver Gossel, Vorsitzender des Verbandes der Elternräte der Gymnasien. Vom „bisher schlimmsten Fehler im niedersächsischen Zentralabitur“ spricht der CDU-Abgeordnete Kai Seefried. Und der SPD-Bildungspolitiker Uwe Strümpel aus Helmstedt äußerte die Erwartung, dass Ähnliches nicht noch einmal passiere.