Braunschweig. TU-Präsident Jürgen Hesselbach spricht im Orakel-Interview von seiner Sorge, dass Flüchtlinge und Studenten künftig um Wohnraum konkurrieren werden.

In diesem Jahr wird Professor Jürgen Hesselbach seine Amtskette an seinen Nachfolger weitergeben. In seinem letzten Orakel-Interview als Präsident der TU Braunschweig sprach Professor Hesselbach mit Wissenschaftsredakteur Johannes Kaufmann unter anderem über die Auswirkungen des VW-Skandals auf die Forschung in der Region und über die Zukunft der TU.

Die NTH ist 2015 endgültig beerdigt worden. Unser Leser Henrich Wilckens fragt: Schafft die TU Braunschweig 2016 eine Neuauflage der Kooperation mit anderen Hochschulen?

Dafür müssen wir gar nicht auf die Zukunft warten. Wir haben bereits im Rahmen des Masterplans für die Wissenschaftsallianz mit der Leibnitz-Universität Hannover einen Vertrag unterschrieben. Es gibt also schon eine Kooperation. Und das werden wir in Zukunft auch noch ausdehnen auf andere Hochschulen.

Welche Auswirkungen wird der Abgas-Skandal bei VW auf die Forschung in der Region haben?

Das hängt davon ab, wie stark das Unternehmen finanziell von der Krise getroffen wird. Wenn es stark getroffen wird, wird es Einsparungen geben, gerade bei der Vergabe von Forschungsaufträgen nach außen. Außerdem profitieren alle niedersächsischen Hochschulen vom „Niedersächsischen Vorab“, das gefüttert wird aus den Erträgen der Volkswagen AG. Dieses Geld kommt ausschließlich den niedersächsischen Hochschulen zugute und verschafft uns Wettbewerbsvorteile. Daraus werden Programme wie „Holen & Halten“ zum Anwerben von Professoren finanziert. Auch die Co-Finanzierung der Exzellenz-Initiative kommt aus dem Vorab, ebenso Zuschüsse zu Forschungsbauten. Das wird deutlich weniger werden oder sogar auf Null sinken, da wird es echte finanzielle Engpässe geben.

Wir als benachbarte Hochschule befürchten natürlich auch, dass die Industrie-Auftragsforschung zurückgeht. Auf der anderen Seite kann man aber davon ausgehen, dass VW bei Digitalisierung, Elektromobilität und vielen anderen Bereichen nun umso mehr Forschung benötigt.

Könnten die engen Beziehungen, die die TU zu VW geknüpft hat, zum Problem werden?

Das glaube ich nicht. Eine moralische Bewertung dessen, was bei diesem Skandal passiert ist, steht mir nicht zu. Aber wir sollten ein klares Interesse daran haben, dass dieses Unternehmen die Probleme möglichst schnell in den Griff bekommt. Und ich bin fest davon überzeugt, dass es für die Region und für das Land Niedersachsen gut ist, wenn die Beziehungen der TU und der anderen Hochschulen zu VW gut bleiben. Die Diskussion über eine mögliche Abhängigkeit der Hochschule von der Industrie haben wir immer wieder. Aber es war ein Gründungsgedanke der Technischen Universitäten, einen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit ihrer Region zu leisten. Daran ändert sich auch nichts.

Befürchten Sie denn nicht, dass darunter der Ruf als unabhängige Forschungsinstitution leidet?

Mit diesem Vorwurf müssen wir schon heute leben. Das gilt genauso für die Universität Stuttgart oder die TU München. Als Institution sind wir ohne Zweifel unabhängig. Wir stehen zur Industrie-Auftragsforschung, aber wir sagen klar, dass daraus keine Abhängigkeit entstehen darf. Wie das individuell umgesetzt wird, können wir als Hochschulleitung nicht kontrollieren. Personen machen Forschung, nicht Institutionen. Diese Diskussion kommt alle Jahre wieder, und wir müssen uns ihr stellen. Wir sind keine Außenstelle eines Unternehmens. Aber dass man in der Automobilforschung um einen großen Automobil-Hersteller nicht herumkommt, dürfte naheliegend sein.

Das zweite große Thema des Jahres ist die Flüchtlingskrise. Die betrifft vor allem Behörden und Kommunen. Wird das 2016 auch für die Hochschulen ein Thema?

Die Landesregierung hat bereits angefragt, ob wir Räume zur Verfügung stellen können. Wir haben die Sporthalle auf dem Campus Nord benannt. Nur dort stehen ausreichend Toiletten und Duschen zur Verfügung. Ich kann mir vorstellen, dass das Land von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, vielleicht sogar noch in diesem Winter. Denn wir werden es nicht verantworten können, dass Menschen draußen frieren müssen, während wir fröhlich Judo- und Salsa-Kurse in der Halle machen.

Und wird die Flüchtlingskrise auch für die Studenten Folgen haben?

Seit einigen Jahren bekommen wir jedes Jahr etwa 1000 Studierende mehr. Das drückt natürlich auf den Wohnungsmarkt im unteren Preissegment. Und da auch Flüchtlinge möglichst nicht kaserniert, sondern in Wohnungen untergebracht werden sollen, kann es da zum Studienbeginn in den Herbst- und Wintermonaten zu einer Konkurrenz kommen. Darüber machen wir uns Gedanken.

Werden die Hochschulen Sprachkurse für Flüchtlinge anbieten?

Das machen wir bereits. Wir haben ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Flüchtlingen, gerade beim Sprachenlernen. Wir bieten auch Kurse für studierfähige Flüchtlinge. Außerdem sind unsere Studierenden sehr engagiert in der Flüchtlingshilfe.

Die TU vermeldet jedes Jahr neue Rekordzahlen bei den Studenten. Geht das so weiter?

Ja. Der Ruf der deutschen Universitäten im Ausland und insbesondere in China, Indien und der Türkei ist insgesamt besser geworden. Gerade spezialisierte Studiengänge wie die Kraftfahrzeugtechnik ziehen internationale Studierende an. Wir haben mittlerweile auch einen Rekord bei den ausländischen Studierenden. Bei den Erstsemestern sind das 32 Prozent mehr als im vergangenen Jahr.

Nächstes Jahr hat die TU also 20000 Studenten?

Davon gehe ich aus. Man muss natürlich fragen, wie weit das noch gehen kann. Wir diskutieren im Moment an der Hochschule, was wir noch verkraften können. Unsere Vizepräsidentin für Studium hat das zuletzt untersucht. Schon bei 20 000 wird es eng, mehr als 21 000 dürften nicht mehr zu schaffen sein. Da kommen wir einfach an die Grenzen, nicht nur bei den Hörsälen, sondern auch wegen der Wohnraumsituation. Wir wollen ja nicht Studenten herlocken, ohne ihnen vernünftige Studienbedingungen bieten zu können. Auch die studentischen Arbeitsplätze werden knapp.

Es würde also nicht helfen, der Uni einige neue Gebäude hinzustellen?

Doch, das könnte man machen. Aber dann müssten wir mit dem Land reden, denn für einen weiteren Ausbau brauchen wir Geld. Und da bin ich skeptisch.

Plant die TU große Projekte für das Jahr 2016?

Das Audimax soll saniert werden, aber das ist wohl etwas für 2017. Außerdem werden wir die Hörsäle im Altbau in Angriff nehmen. Das hat zurzeit höchste Priorität: Hörsäle, Hörsäle, Hörsäle.

Und in der Forschung? Was wird da für Furore sorgen?

Wir werden die Open Hybrid Lab Factory einweihen. Da hoffe ich auf eine Sonderseite in Ihrer Zeitung. Außerdem wird das Braunschweiger Zentrum für Systembiologie (Brics) eingeweiht und das Labor für Nanometrologie (Lena) sowie das Zentrum für Pharmaverfahrenstechnik (PVZ) fertiggestellt. Im Grunde sind dann alle Bauten, die in meiner Amtszeit geplant wurden, auch abgeschlossen. Bevor wir neue Großprojekte in Angriff nehmen, müssen diese Zentren erst einmal zum Laufen gebracht werden. Es steht also eine Konsolidierungsphase bevor.

2015 haben Sie die Erfolge im Kampf gegen Ebola vorhergesagt. Haben Sie ähnliche Prognosen für 2016? Etwa für die Nobelpreise?

Ich erwarte Durchbrüche vor allem in der Gentherapie. Mit dem Genome Editing werden präzise Eingriffe ins menschliche Erbgut möglich. Hier gibt es enormes Potenzial für künftige Therapien, zum Beispiel bei erblich bedingten Herzinfarktrisiken. Ganz sicher werden wir im nächsten Jahr mehr über Anwendungen in der Medizin erfahren, die noch vor kurzem unmöglich gewesen wären.

Nach wie vor ist Emmanuelle Charpentier aus meiner Sicht eine Kandidatin für den Nobelpreis. Sie hat ganz erheblich zu der Erforschung der CRISPR/cas-Systems beigetragen, auf dem die neuen Methoden zur Beeinflussung des Erbgutes basieren.

Professor Charpentier hat Braunschweig gen Berlin verlassen. Im November hat sie sich dort sehr lobend über die Stadt geäußert. Hier lasse es sich prima leben und arbeiten. Wird es der Region bald wieder gelingen, einen derart renommierten Forscher zu locken?

Da das dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) schon einmal gelungen ist und wir noch andere renommierte Wissenschaftsinstitutionen in der Stadt haben, sollte es auch in Zukunft gelingen. Beim HZI bin ich mir relativ sicher, aber das könnte genauso gut auch bei der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt sein. Im Übrigen kann ich Professor Charpentier nur zustimmen. Selbst als Wolfenbütteler sage ich: Braunschweig ist eine tolle Stadt geworden.

Dies ist voraussichtlich das letzte Orakelgespräch mit Ihnen als TU-Präsident. Ihre Amtszeit geht aber doch eigentlich noch bis 2018. Warum legen Sie schon in diesem Jahr Ihren Posten nieder?

Ja, meine Amtszeit endet formell am 31. Dezember 2018. Aber ab dem 1. Oktober 2016 gibt es einen neuen Präsidenten oder eine neue Präsidentin der TU. Das ist eine private Lebensentscheidung: Es gibt noch andere Dinge, die man im Leben machen kann, und die möchte ich insbesondere mit meiner Frau zusammen machen.

Ich gehe aber nicht in den Ruhestand, sondern werde mein Professorenamt wieder aufnehmen. Man soll ja langsam runterfahren, wie unser Hirnforscher Martin Korte immer sagt. Ich bin nicht berufsmüde, aber ich möchte raus aus dem Druck und der Verantwortung, die das Amt mit sich bringen. Außerdem ist es jetzt ein schöner Zeitpunkt, vom Platz zu gehen. Das sollte man tun, solange man noch selbst gehen kann. Unsere Studentenzahlen, die Finanzen, die Bauprojekte, dies alles ist auf einem guten Weg. Das macht es für mich zu einem guten Zeitpunkt.

ZUR PERSON

Jürgen Hesselbach ist Präsident der TU Braunschweig. Er wurde 1949 in Stuttgart geboren, wo er Maschinenbau studierte und 1980 zum Dr.-Ing. promovierte.

Bei der Firma Bosch in Waiblingen arbeitete Hesselbach anschließend als Leiter der Entwicklung „Baueinheiten der Montagetechnik“.

Der Ruf an die TU nach Braunschweig erfolgte 1990. Als Professor leitete er bis 2012 nacheinander zwei Maschinenbau-Institute.

Präsident der TU wurde Hesselbach 2005. Seine zweite Amtszeit wird er im Oktober 2016 vorzeitig beenden.

Hesselbach ist Vater von vier Kindern. Seine drei Töchter sind ebenfalls Ingenieurwissenschaftlerinnen.