Braunschweig. Viele Flüchtlinge kommen zu uns. Aber 86 Prozent bleiben in Entwicklungsländern.

Unser Leser Philipp von Pressentin fragt:

Nimmt nur Europa momentan Flüchtlinge auf?

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Die Antwort recherchierte Jens Gräber

„Die reichen Länder nehmen im Vergleich nur sehr wenige Menschen auf.“
„Die reichen Länder nehmen im Vergleich nur sehr wenige Menschen auf.“ © Jochen Oltmer, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück

Die beschlossene Umverteilung von insgesamt 160 000 Flüchtlingen innerhalb Europas kommt langsam voran. Am Mittwochmorgen wird erstmals aus Griechenland eine Gruppe verteilt, wie die Deutsche Presse-Agentur berichtet. 30 Migranten würden nach Luxemburg geflogen, teilte die EU-Kommission am Dienstag in Brüssel mit.

Dies sei ein „entscheidender erster Schritt in einem Prozess, der systematisch werden muss“, erklärte der für Migrationsfragen zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos. Er fügte mit Blick auf die zögernden Staaten aber hinzu: „Es ist jetzt Zeit, einen Gang hoch zu schalten.“ Man zähle auf alle EU-Staaten.

So viel wird in diesen Tagen über Flüchtlinge in Europa und ihre Verteilung diskutiert, dass tatsächlich leicht der Eindruck entstehen kann, den auch unser Leser hat: Nur in Europa werden überhaupt Flüchtlinge aufgenommen.

Das aber ist falsch, wie Professor Jochen Oltmer vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück erklärt. „Afghanistan zum Beispiel ist seit rund 30 Jahren immer an der Spitze der Staaten, aus denen die Menschen fliehen. 95 Prozent der Flüchtlinge kommen aber in den Nachbarstaaten unter, also zum Beispiel in Pakistan und im Iran“, sagt Oltmer.

Auch aus Syrien – das Land, aus dem derzeit die meisten der in Deutschland Asylsuchenden stammen – würden viele Menschen sich gar nicht nicht auf den Weg nach Europa machen, sondern Schutz in benachbarten Staaten wie der Türkei, Jordanien, Libanon und Irak suchen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen stellte Ende 2014 fest, dass 86 Prozent aller Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, in Entwicklungsländern bleiben. „Die reichen Länder nehmen im Vergleich nur sehr wenige Menschen auf“, sagt Oltmer.

Hinzu kommt, dass ein Großteil der Menschen, die zum Beispiel vor Kämpfen flüchten, ihr Land gar nicht verlassen. „Die meisten weichen innerhalb des Landes aus“, erklärt Oltmer. Das gelte auch für Syrien. Oltmer verweist wieder auf Zahlen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen: Demnach hat es Ende des Jahres 2014 in Syrien 8 Millionen sogenannte Binnenflüchtlinge gegeben, nur 4 Millionen haben bei ihrer Suche nach Schutz überhaupt das Land verlassen.

Es gebe weitere Beispiele: „In Kolumbien sind 6 Millionen Menschen auf der Flucht vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen – aber kaum jemand hat das Land verlassen.“ Das gelte auch für die Demokratische Republik Kongo.

Der Professor sieht mehrere Gründe für diese Entwicklungen: „Es geht stark um Rückkehrvorstellungen“, sagt er. Die Menschen legten keine großen Distanzen zurück, um sich nicht zu weit von ihrer Heimat zu entfernen. Vielen seien Netzwerke aus Freunden, Verwandten oder Bekannten wichtig – und die gebe es eben eher im Heimatland oder der direkten Umgebung. Außerdem: Nicht jeder habe das Geld, um Schlepper für eine Reise übers Meer zu bezahlen.

Ebenfalls ein wichtiger Faktor: „Die Abwehrmaßnahmen, die viele Staaten gegen Flüchtlinge ergriffen haben.“ Australien zum Beispiel, bekannt für eine rabiate Flüchtlingspolitik, soll Berichten zufolge Schlepper bezahlt haben, damit sie Flüchtlinge in ihre Heimatländer zurückbringen.