Braunschweig. Wenn Spartengewerkschaften durch Streiks weite Teile des Verkehrs lahmlegen, können große Schäden für die Wirtschaft entstehen.

Unser Leser Michael Lotsch aus Salzgitter fragt:

Ich frage mich, wieso der Staat hier nicht regulierend eingreift und es zulässt, dass einige Wenige mit übertriebenen Forderungen stetig ein ganzes Land in Geiselhaft nehmen.

Die Antwort recherchierte Daniel Freudenreich

„Die Schäden für die Wirtschaft werden durch einen Streiktag mindestens 50 Milli- onen Euro betragen.“
Gunnar Gburek, Logistikexperte beim Verband BME.

Welche Macht Spartengewerkschaften besitzen, haben die GDL und die Vereinigung Cockpit mit Nachdruck demonstriert. Wenn sie zu Streiks aufrufen, liegen nicht nur weite Teile des Verkehrs lahm. Auch unbeteiligte Dritte – Pendler, Fluggäste, andere Unternehmen – spüren die Folgen des Tarifstreits.

Die Bundesregierung will dagegen nun vorgehen – mit einem Gesetz zur Tarifeinheit. Es könnte die Macht kleiner Gewerkschaften massiv beschneiden. Dass sich der Staat hier einmischt, ist aber nicht nur verfassungsrechtlich umstritten. Während die eine Seite meint, Tarifverhandlungen seien zu Recht nur in Händen von Arbeitgebern und -nehmern, fordert die andere ein staatliches Eingreifen auch wegen der wirtschaftlichen Folgen durch Streiks von Spartengewerkschaften.

Diese können beträchtlich sein. „Die Schäden für die Wirtschaft werden durch einen Streiktag mindestens 50 Millionen Euro betragen“, sagte Gunnar Gburek, Logistikexperte des Bundesverbands Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME), unserer Zeitung mit Blick auf Lokführerstreiks. „Wenn es keine Ausweichmöglichkeit gibt, entsteht für die Volkswirtschaft ein größerer Schaden“, sagte auch Oliver Stettes vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln auf Nachfrage. In anderen Worten: Wenn die Bahn streikt, kann nicht jedes Unternehmen auf Lastwagen umsteigen. So könne es zum Produktionsstillstand bei Unternehmen kommen, die mit dem Streik nichts zu tun haben. Verschärfend kommen aus Stettes Sicht zwei Punkte hinzu: Zum einen hätten viele Betriebe kleine Lager, zum anderen gebe es einen Trend hin zu immer kurzfristigeren Bestellungen. Damit müssen die Produzenten schneller beliefert werden. Am Ende steigert diese Entwicklung das Drohpotenzial einer Gewerkschaft wie der GDL – denn ohne die Lokführer drohen Lieferprobleme.

Nicht umsonst sagte Gburek gestern, dass ein Arbeitskampf über 61 Stunden, wie ihn die GDL am Freitag angekündigt hatte, eine „Katastrophe“ wäre. Besonders heftig würde dies die Stahlindustrie treffen. „Ein Hochofen muss permanent versorgt werden“, sagte Gburek. Die Unternehmen hätten zwar für einige Tage Vorräte an Kohle und Erzen, die Halden müssten aber nach dem Streik schnell wieder gefüllt werden. Folgen hätte der Streik auch für die chemische Industrie.

Zu möglichen Auswirkungen durch längere Bahnstreiks äußerte sich die Salzgitter AG gestern nicht näher. „Wir haben eigene Züge für den Erztransport“, sagte Sprecher Bernhard Kleinermann unserer Zeitung. Bei einem Lokführerstreik ist es allerdings fraglich, ob die Züge überhaupt bei der Salzgitter AG ankommen können. Das wird davon abhängen, ob die Schienen durch stehende Bahnen blockiert sind.

Auch bei VW dürfte ein mehrtägiger Streik kaum ohne Auswirkungen bleiben. Schließlich müssen die Werke mit Komponenten beliefert und PKW abtransportiert werden. „Wir beobachten die aktuelle Entwicklung des Lokführerstreiks genau, hoffen jedoch, dass die beschlossenen Streikmaßnahmen die Produktion an unseren Standorten aktuell nicht beeinträchtigen werden“, sagte gestern Mittag ein VW-Sprecher unserer Zeitung zu dem Zeitpunkt, als der Streik beschlossene Sache war. Vor diesem Hintergrund hatte der Braunschweiger Spediteur Adalbert Wandt angekündigt: „Ich rechne mit LKW-Reservierungen von VW.“

Zu den genauen Folgen der Streiks wollte die Bahn gestern nichts sagen. Auskunftsfreudiger zeigte sich die Lufthansa, die seit April achtmal durch die Pilotengewerkschaft VC bestreikt wird. Insgesamt seien über 4400 Flüge ausgefallen und gut 500 000 Passagiere davon betroffen gewesen, sagte ein Sprecher, ohne eine Schadenssumme zu nennen. Sie wird in die Millionen gehen. Ein Vergleich: Bei Air France streikten die Piloten wochenlang. Die Fluglinie rechnet mit einer halben Milliarde Euro Schaden.