Braunschweig. Auch 18 Jahre nach dem Tod von Yasmin Stieler wird über den Täter spekuliert. Eine Psychologin gibt Antworten.

Ein Leser, der sich Victor nennt, fragt:

Warum hat die Polizei damals heiße Spuren nicht verfolgt?

Zu dem Fall recherchierten Lisa Bertram und Ann Claire Richter

„Von Verbrechen geht ein bestimmter Nervenkitzel aus, der immer wieder Menschen in seinen Bann zieht. Ein Kitzel des Grauens, die Faszination des Bösen.“
Daniela Hosser, Psychologin der forensischen Psychologie an der TU.

Dieser Fall lässt Menschen nicht los. 18 Jahre war Yasmin Stieler alt, als sie starb. Eine lebenslustige junge Frau. Getötet, ihr Körper zerstückelt, die Leichenteile versenkt, vergraben. Kilometerweit verstreut. Die Hände sind bis heute nicht gefunden. Ein Anwohner hatte ihren Torso am Bahndamm in Vechelde entdeckt. Es war der 14. Oktober 1996.

Yasmins Mutter hat ihre Tochter nun in Erinnerung gebracht. 18 Jahre nach der Tat. Sie will nicht, dass Yasmin vergessen wird, dass der Täter ungeschoren davon kommt. Rosemarie Schäfer hat die Belohnung zur Ergreifung des Täters auf 50 000 Euro erhöht.

Die Mutter hat Wunden aufgerissen. Und sie ist nicht allein mit dem unerträglichen Gedanken, dass da immer noch ein Mörder frei herumlaufen könnte. Da sind die Freunde, die Nachbarn und Menschen, die von Yasmins Schicksal gehört haben. Da sind Polizisten, denen der ungeklärte Fall nicht aus dem Sinn geht.

Es gab damals einen Tatverdächtigen. Zur Anklage kam es nie. Was mag der Mann heute empfinden? Wird er je zur Ruhe kommen?

Und da sind Unbekannte, die in Internetforen über mögliche Tathergänge diskutieren. Immer noch. Hobbydetektive, die nicht locker lassen und ihre Freizeit

hergeben, in der Hoffnung, zu schaffen, was den Ermittlern nicht gelang.

Victor (Name von der Redaktion geändert) ist einer von ihnen. Er steckt tief drin im Fall Yasmin Stieler. 14 Ordner habe er inzwischen mit Informationen über die Tat zusammengetragen, sagt er. Er hat an Türen geklingelt, Zeugen befragt, ist die Fundorte der Leichenteile abgefahren, hat Spuren gesammelt und Fakten verglichen. Ein Mann, der Puzzleteile sucht und hofft, dass sie am Ende ein Bild ergeben. Er hinterfragt alles, hört das Gras wachsen, zieht gewagte Schlüsse. Nicht jeder kann seinen Thesen folgen.

Was treibt ihn an? „Kein Fall ist unlösbar“, sagt Victor. „Ich will beweisen, dass das Individuum erfolgreicher sein kann als der Staatsapparat.“

Daniela Hosser ist Psychologin am Lehrstuhl für Entwicklungs-, Persönlichkeits- und Forensische Psychologie an der Technischen Universität Braunschweig. Sie kennt Victor nicht. Aber sie kennt das Phänomen. „Von Verbrechen geht ein bestimmter Nervenkitzel aus, der immer wieder Menschen in seinen Bann zieht. Ein Kitzel des Grauens, die Faszination des Bösen.“

Über die Motive von Hobby-Ermittlern könne sie nur spekulieren. „Einige Leute haben vielleicht einen besonderen Gerechtigkeitssinn, andere möglicherweise einen persönlichen Bezug zum Verbrechen. Ebenso wie jemand mehr oder weniger fanatisch Schmetterlinge sammeln kann, kann auch jemand fanatisch Fakten zu Straftaten sammeln.“

Viele Menschen hätten schon als Kind den Wunsch, Detektiv zu werden. Es sei immer wieder spannend, die menschlichen Abgründe zu erforschen. „Das Katz-und-Maus-Spiel fesselt die Menschen an Krimis und realen Verbrechen.“

Für Victor ist die Sache kein Spiel. Er wirft Fragen auf, die tatsächlich stutzig machen. Er glaubt zu wissen, wer der Täter ist: ein Mann, der 1999 wegen Mordes verurteilt wurde. Er hat gestanden, eine Rentnerin getötet und zerstückelt zu haben.

Victor verweist auf ein Gutachten des Bundeskriminalamts vom Mai 1999, das der Redaktion vorliegt. Das vergleicht drei Fälle in der Region. Fälle, in denen die Opfer zerstückelt wurden. Von keinem der drei Toten wurde je ein Kleidungsstück gefunden. Von jedem der drei Toten fehlt bis heute mindestens ein Körperteil. Das BKA hatte damals nicht ausgeschlossen, dass es sich um einen Serientäter handeln könnte.

Victor hält fest an dieser Theorie. Er glaubt, dass Spuren nicht sorgfältig genug nachgegangen wurde. „Ist es nicht auch erstaunlich, dass es nach der Verhaftung des Mörders der Rentnerin keine ähnlichen Fälle in der Region mehr gegeben hat?“ Victor fragt: „Warum wird in solchen Fällen nicht eine mobile Mordkommission eingerichtet? Warum lässt man Leute ran, die keine Erfahrung haben und die vielleicht mal alle 20 Jahre solch einen Fall auf den Tisch kriegen?“

Victor wirft den Ermittlern im Fall Stieler auch vor, am Fundort der Leiche unprofessionell vorgegangen zu sein. Ein Vorwurf, der hinter vorgehaltener Hand auch aus Polizeikreisen gestützt wird.

Für die Staatsanwaltschaft Braunschweig ist das kein Thema. „Sämtliche in Betracht kommende Spuren sind damals umfassend und sorgfältig ausgewertet worden“, betont eine Sprecherin auf Nachfrage unserer Zeitung.

Doch was eigentlich macht der Täter? Wie hat er mit seiner Schuld weiterleben können? Eine Frage, die sich alle Menschen stellen, die je von Yasmin Stieler gehört haben.

Verdrängung, Verzerrung, Leugnung, Bagatellisierung. „Häufig lehnen die Täter es ab, die Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen“, sagt Psychologin Hosser. Viele Täter versuchten, die Tat zu verharmlosen oder sich selbst als Opfer der Umstände zu sehen. „Sie reden sich die eigenen Taten oft klein, um damit leben zu können oder sagen sich, dass ihre eigene Bestrafung dem Opfer nun auch nicht mehr helfen könne.“

Erst jüngst berichtete die Süddeutsche Zeitung von einem Täter, der sich nach 15 Jahren gestellt hatte. 15 Jahre, die er damit lebte, einen Taxifahrer umgebracht zu haben. Seine Schuld habe ihn fast in den Wahnsinn getrieben, erzählte er dem Journalisten. Die Zeitung zitiert den Mann mit den Worten: „Mir selbst konnte ich nicht entkommen.“ Seine Strafe seien die 15 Jahre draußen gewesen, nicht die zweieinhalb Jahre im Gefängnis.

Vielleicht wird eines Tages ja auch die Geschichte einer langen Reue im Fall Yasmin Stieler geschrieben.